Folge 5

Ein Jenseitslärm. Den Verschlag rüttelte es schwer durch. Er klapperte an Dach und Wänden, dass ans Schlafen alleine deswegen nicht mehr zu denken war.  Wir rissen uns zeitgleich hoch, sahen uns, nein, nicht in Schreck, vielmehr steinern an und stürzten wortlos in Shirt und Shorts auf die Tür zu. Ich war schlanker und schneller, stieß also zuerst die Tür auf.  Ich sah nicht sofort was. Weil die Sonne schon schien und die Ursache des Lärms sich in ihren Strahlen niedergelassen hatte. Die helle Strahlkraft am Mittag erschwerte mir die Sicht. Ich schirmte meine Augen flott ab.  Ein Hubschrauber.  Zweisitzer. Mit Tarnfarbe besprüht, doch nicht vom Miltär, keine auffälligen Kennzeichen sonst. Eine Tür an der frontal angelegten Glaskuppel, die den Hubschrauberkörper zum Großteil ausmachte,  ging gerade auf.  Ich schob mich aus dem Verschlag vor und richtete mich zur vollen Gestalt auf. Die frische Bergluft schnitt mir irgendwohin, an fast alle Stellen, die ich bislang nicht kannte. Malinowski schloß zu mir auf. Kein Atemgeräusch seinerseits. Sein Gesicht sagte nichts, auch er schirmte ab. Endlich. Endlich ging es los. Man warf ein Seil vom Hubschrauber aus.  Nur kurz dachte ich, es wäre für einen von uns gedacht. Gedacht war es aber für jemanden anders. Derjenige schob einen Fuß in lackierter Stiefelette in die am Seil angebrachte Schlaufe, hielt sich sonst brav mit Lederhandschuh fest. Immens warm war es nicht gerade, doch niemand von uns beiden bibberte auch nur ein bißchen. Der Hubschrauber rotierte vor der Felswand auf unserer Augenhöhe, bewegte sich dabei allmählich voran. Vom Piloten, der unter einem Helm steckte, sahen wir nicht viel, dafür war die Gestalt am Seil ein Blickfang. Ein schmales Persönchen, das unwesentlich hin und her schaukelte, im Zweiteiler, ein Rucksäckchen vor der Brust, ein Käppi bis auf die Brauen. Wer trug schon Stiefeletten? Ein Geck doch nur. Andererseits. Wer trug Anzug in den Bergen? Wir, die wir zu viele Gangsterfilme von Melville gesehen hatten. Der Hubschrauber schob sich vor ans Plateau, zerlegte die Frischluft mit monströsem Auftrieb. Der Pilot, aus dieser Nähe gut sichtbar, grüßte wie weiland Laeonid Iljitsch Breschnew, wenn er die Miltärparaden auf dem Roten Platz abnahm. Das Persönchen schwebte vor und auch einen Tick über uns. Wir waren wohl beide noch dabei, es genauer zu sondieren, da  sprang es schon ab. Noch anderthalb Meter fehlten ihm zum Boden, doch sprang es, mutig oder nur hirnlos, vom Seil ab.  Ins Felsgeröll darunter. Federte ab, als sei es aus Kautschukimitat gemacht. Blieb tatsächlich stabil stehen. Schau an, so ein stabiles Persönchen. Es richtete sich auf. Von halbgebückt auf hoch. Langsam, wie im Lehrbuch für Schreckgespenster vorgesehen. Das Logo am Käppi warb für ein Süßgetränk, das einem endlos Energie eingab. Wir hielten den Atem nicht an. Auch wir hatten unsere Lehrbücher, und in denen stand: aus- und einatmen, aus und ein, in steter Abfolge, bis ein entscheidender Gedanke fest war. Wir müssen ein gewöhnungsbedürftiges Bild abgegeben haben, so  kurzärmelig und unrasiert und mit verwuscheltem Haupthaar und wohl Mundgeruch nach dem Exzess aus Kartoffelschnaps und Studentenfutter des Vorabends, an dessen Ende wir uns, sofern mich mein Gedächtnis nicht täuschte, fest in Bruderschaft umarmten, müssen eben bedürftig ausgesehen haben, denn das Persönchen, fünf, vier, drei Meter von uns fern und immer geraden Schritts voran schreitend, sah uns aus seinen extra-blaßblauen Augen streng an.  Ein irres Blau. Weil es gar keine Tiefe aufwies, bloß einen subtilen Verweis auf das Weiß der Arktis.  Oder eher auf das Blau des Ozeans, der sich im ewigen Eis unmaßgeblich spiegelte, gerade so, dass man es wahrnahm. Das Persönchen nahm im Gehen das Käppi ab. Blondes Haar fiel ihm über die Schulter. Dickes, jenseitig blondes Haar, das, wie die gesamte Erscheinung, das verstand ich – korrekter: das verstanden wir – sofort, auf Versuchung aus war. Meine Hand, ich war kein Herr meiner selbst mehr, suchte Malinowskis Hand, und fand sie nicht.