Folge 4

Er erinnerte mich an jemanden, doch mir fiel schier nicht ein, an wen genau. An eine Person, die ich vor Ewigkeiten, unter Umständen nicht mal gut, vielleicht aber doch ausreichend genug, gekannt habe; gekannt haben muss, weil ja mein Gedächtnis ansprang. Es war nicht sein Äußeres, vielmehr die Art wie er sich gab. So anscheinend stabil, unverrückbar, granitartig fast, doch unerschütterlich nur anscheinend eben; innerlich aber, nun, durchlässig und insgesamt, da hätte ich wetten können, verloren. Ich musste mein Bild von ihm gründlich auffrischen. Ergänzen und notfalls nivellieren. Alle seine Stärke, je länger ich ihm zusah, war unvermutet hin. Selbst ein Teddy war er nicht mehr, den ich ja ursprünglich und seit langem in ihm festzumachen glaubte. Nein. Er war ja ein Profi; zumindest ging er eine Ausbildung durch, die ich selbst erfahren hatte. Das heißt: Er wurde kugelsicher gemacht, sollte niemals nicht mal gering empfinden, schon gar nicht mitleiden oder sich erbarmen. Ich sah ihn immer wieder unvermittelt an, weil ich wusste, dass er mich nicht wahrnahm. Er sah harmlos aus. Als könne er niemandem weh tun. Ein gemütlicher Klops, der sich unverrückbar niedergelassen hatte und alles ohne Unterschied und Regung über sich ergehen ließ. Wir sprachen kaum was. Den Tag lang fielen höchstens ein Dutzend äußerst gängige, unerhebliche Sätze, obwohl wir uns was über das Leben und dessen Beschaffenheit zu sagen gehabt hätten, das nahm ich zumindest an. Sein Deutsch war gut genug, der Akzent lastete zwar schwer, aber der Wortschatz geriet ihm derlei reichhaltig, dass mehr als die üblichen Nettigkeiten zwischen zwei Unbekannten aus zwei Welten denkbar gewesen wären. Er aß lustlos, wenn er denn aß. Legte zwischen den Bissen lange Pausen ein, vergaß für Minuten sein Brot zu kauen, sein Blick derweil: ins Nirgendwo gerichtet. Wie erwähnt: Er wirkte durch und durch vernachlässigt, wie eine Figur aus dem Seniorenwohnheim, die man an einer Haltestelle vergessen hatte und die nicht weiß, wohin mit sich. Und apathisch dort sitzen bleibt wo abgestellt. Und wartet. Und mit der Zeit ohne Mucks verrottet. Er war mehr tot als lebendig, so wirkte es tatsächlich auf mich, mein Auftrag demnach, wollte man der Hobbylogik folgen, erledigt. Das könnte man zumindest so sehen. So wollte ich es auch sehen. Denn je mehr ich mich derjenigen Person aus meiner Vergangenheit näherte, an der mich erinnerte, die ich gut oder weniger gut kannte und die ich immer noch zu benennen nicht imstande war, desto mehr setzte mir der Gedanke zu, gerade dieses Leben hier auszulöschen. Was genau in seinem Ferienhaus in den Wäldern Osteuropas vor vier Monaten geschehen war, das spielte keine Rolle, denn das erfuhr ich nur vom Hörensagen; was daran stimmte war also höchst ungewiss. Sie wollten ihn erwischen, das stand halbwegs fest, erwischten aber seine Familie anstatt. Alle verbrannten sie. Ich vermute, dass ihn der Gedanke an Rache zu uns führte. Er wusste um unsere offene Rechnung mit denen. Deshalb, weil man darauf setzte, dass er seine Rachegelüste warm hielt, doch ausreichend Profi war, um sie kaltblütig zu lenken, war er bei der Übergabe dabei. Weit eher als von dem klumpigen, kümmelhaltigen Brot ernährte er sich von Sonnenblumenkernen. Seine Hosentaschen waren mit ihnen jedenfalls üppig gefüllt. Gelegentlich wühlte er gekonnt in jenen besagten Taschen und bot mir dann aus der Handfläche heraus eine Auswahl an. Ich probierte den Kern von seinem Mantel mit Hilfe der Vorderzähne zu spalten, doch fiel es mir unsäglich schwer, während Malinowski geradezu sagenhaft geübt war. Er warf sich sorglos eine Handvoll Kerne in den Schlund und sortierte sie hernach in der Mundhöhle offenbar einzig unter dem Einsatz seiner Zunge, trennte das Wesentliche vom Abfall. Wobei er den Abfall, egal wo er gerade stand, so zielgenau wie geräuschlos ausspuckte. Der Dielenboden des Verschlags war übersät mit Hülsen. Gerade seine lässige Art die Hülsen loszuwerden, der Abfallausstoß, brachte mich auf die Spur; geradewegs zu meiner Tante hin. Die war es. Die hatte diese lässige Art gehabt, tat alles wie nebenher, ohne Gewichtung und dennoch gut, allerdings dann doch nur scheinbar lässig. So sehr sie sich der Tätigkeiten hin- und Mühelosigkeit vorgab, sie konnte nicht verhindern, dass ihr Alltag mit Löchern der Abwesenheit durchsetzt war. Mit Augenblicken, wo sie nichts hörte. Wo sie hinstarrte ohne was zu sehen. Wo man wusste, dass ihr die Lebenslust entwischt, dass sie verloren war. Flüchtig besehen gab es keine Gründe für ihre Abwesenheit; sie hatte einen Mann und Kinder, die ihr zugeneigt waren, eine Arbeit und ein Flachdach über dem Kopf hatte sie auch. Die simplen Voraussetzungen fürs Glück waren demnach da. Nur das Glück, das zeigte sich ihr nie. Ich mochte meine Tante sehr. Damals vor allem, weil ich mich von der Mühelosigkeit täuschen ließ, die Löcher, selbst im jugendlich-unkontrollierten Eifer knietief steckend, komplett übersah. Heute weiß ich, dass ich die Löcher sehr wohl registriert haben musste und dass ich meine Tante letztendlich wohl wegen der Spannbreite der menschlichen Regungen mochte, die sie mir zum Zeitpunkt meiner Ichwerdung gänzlich unbewusst klar gemacht hatte. Der Einblick in unbekannte Regionen war von unschätzbarem Wert für mich. Ich wusste von ihr, dass das Unglück jede Gestalt hatte.

Fortsetzung folgt.