Silvester für Schwächlinge

Sich vom Jahr zu verabschieden, das fällt nicht schwer. Nicht nur diesmal, immer. Ein herzliches: Hauab! genügt da. Vom alten Jahr wissen wir alles, das neue verspricht. Ob es hält? Niemand weiß. Man kann noch so fleißig spekulieren, Pläne schmieden, sich mit Listen für gute Vorsätze ausstatten – alles im Grunde Arbeit ohne Wert. Das Jahr wird uns garantiert überraschen. Im Guten wie im Bösen. Das ist doch eines jeden Jahres Merkmal: die Überraschung. Das sollte den Menschen an sich auf den Boden bringen. Dass er es nicht in der Hand hat, was da auf ihn zukommt. Dass er bloß eine Spielfigur, manch ein Skeptiker sagt: Witzfigur, in einem Spiel ist, dessen Regeln nur bedingt menschengemacht sind. Bringt es ihn auf den Boden? Auf den Hosenboden allenfalls, wenn er am Silvester noch vor Mitternacht nach einer Batterie Kleiner Feiglinge erst taumelt, dann fällt. In den Dreck fällt, weil es ein Dreckswetter dort draußen ist; ein Blick durch das vom Alten Jahr – genau, dem mit dem langen, gutbösezerzausten Bart – verschmierte Fenster reicht da um 9:07 Uhr aus. Die Freude an Silvester ist ein Ablenkungsmanöver. Man läßt die Vergangenheit möglichst laut zusammenkrachen, alleine, weil es vergangen & damit gegessen & man zu faul ist, um darauf zurückzublicken & daraus eventuell was zu lernen fürs Kommende, und freut sich aufs Neue, wovon niemand weiß, nicht mal Rumpelstilzchen, das wohl weiß, wie es heißt, was es denn bringt. Vielleicht den Tod. Vielleicht noch längeren Bart. Was ist das für Haltung? Eine, allemal von Lebensskeptikern aus, anzweifelbare Haltung. Silvester bringt es nicht. Silvester ist was für Schwächlinge, die harte „Silvester für Schwächlinge“ weiterlesen

Das Christkind: gestreichelt, nicht gerührt

Man kann klagen über den Mangel an Zeit, wie an dieser Stelle schon mal gelegentlich geschehen, doch merkt man jenen Mangel erst wirklich, wenn es Dezember 18 wird. Wo nicht mal Zeit für einen geraden Satz außerhalb der Jazz Podium-Welt bleibt. Diese Welt verlangt von einem nämlich derzeit vor allem eins: alles. Kein (bislang halbwegs fest einzementierter) Stein bleibt auf dem anderen, kein Familienmitglied auch nur peripher betreut, keine bisherige Ordnung insgesamt unangetastet. Der Beruf hat einen gefressen. Man teilt dabei das Schicksal von so vielen Menschenkindern.  Man opfert sich zwar in dieser zerstörerischen Weise nicht immer, doch beim JP dann doch schon ganz und gar freiwillig. Weil Jazz eine Haltung des Geistes ist, das nicht zuletzt. Und Arbeit ein Motor, der Erfüllung verheißt; weil Leistung ein Maßstab für Tauglichkeit als Mensch und als Maschine  ist; auch weil Zeitungmachen  – zwischendurch – Euphorie erzeugen kann; allemal, wenn man schließlich ein Eigenerzeugnis in den Händen hält.  (Journalisten haben eine Lebenserwartung, die knapp über der von Einstagsfliegen liegt; das nur am Rande und keineswegs als Klagelied angelegt.) So eine Herstellungsprozess „Das Christkind: gestreichelt, nicht gerührt“ weiterlesen

Uma

(Um mir den kommenden Blog zu sparen, doch gerade noch rechtzeitig vor Nikolaus, der Anfang einer Geschichte, die ich vor vielen, vielen, vielen Jahren geschrieben habe und die keins der Kinder vorgelesen haben oder selbst lesen wollte. Die komplette Geschichte gibt es auf dieser Seite in der mager bestückten Geschichten-Rubrik. – Die Formatierung ist hin, ich weiß. Kann aber im Augenblick nichts gegen sie ausrichten.)

Uma steigt ein – und aus

– Steig ein, sagte Mama, und Uma stieg ein. Die Mama rief noch: – Und grüß mir den Papa, mein Mädchen. Vom Eingang aus winkte Uma der Mama, dann schloss die Zugtür schon. Uma rieb sich die feuchte Stelle auf ihrer Wange ab, die Mamas Kuss hinterlassen hatte, und rollte ihren Koffer vor zu ihrem Platz. Wagen 511, Sitz Nummer 51, eine Eins machte da den Unterschied nur. Fünfhundertelf minus 51, was ergibt das? Wie viel noch? Sie rechnete im Gang mit den Fingern. Weniger als Fünfhundert, das auf jeden Fall, aber … Da drückte von hinten jemand gegen sie. Dermaßen gewaltig, dass sie fast umfiel. Gerade so noch konnte sie sich festhalten. Am Haar einer Frau im Sitz daneben. Uma flüsterte: – Entschuldigung. Die Frau schaute nicht mal hoch zu ihr. Von hinten hörte Uma stattdessen eine Männerstimme voll Ungeduld sagen: – Los, los Kleine, aus dem Weg jetzt. Uma machte sich dünn. Ein dicker Mann fast ohne Kopfhaar, der eine schwere Sporttasche über der Schulter trug, zwängte sich an ihr vorbei. Kein Haar auf dem Kopf, dafür wucherten seine Brauen üppig und auch aus der Nase sprossen ihm schwarze Härchen. Uma sandte dem Mann einen stummen Fluch hinterher: Des Belzebub Fluch sei mit dir, du bist kein Mensch, du bist ein Tier. Nicht dass der Fluch jemals gewirkt hätte, aber er besserte Umas Laune. An ihrem Platz angekommen, öffnete Uma mit einem geübten Ruck den Reißverschluss des karierten Koffers, den ihr die Mama vor zwei, drei, nein, gar nicht wahr, vor vier Jahren vom Kongress der Physiker in Glasgow mitgebracht hatte. Sie klappte den Deckel auf. Den im Batteriefach rostigen CD-Spieler, den ihr Vater auf einem Flohmarkt aufgetrieben hatte, nahm sie heraus – sowie eine Brotzeitdose, die Vollkornsemmeln in der Tüte, das Taschenmesser, die Schachtel mit den Feen aus Filz. Sie steckte all das in das Netz, das unten an der Rückenlehne des Sitzes vor ihr angebracht war. Eine Weile wühlte sie noch im Koffer. Wo waren denn zum Teufel noch mal die Plüschkatze und das wollene Haflinger-Fohlen, das ihr Onkel Egon, der Förster vom Silberwald, geschenkt hatte? Hier im Koffer waren sie jedenfalls nicht. Sie hielt die Tränen zurück, klappte den Deckel zu, schloss den Verschluss. Der Mensch war nicht perfekt. Nie gewesen. Sonst wäre er nämlich schneller als das Gepardmännchen. Und besser gekleidet als der Ara. Und netter anzuschauen als jedes Reh. Und kräftiger als eine Ameise. Sie versuchte ihren Koffer in die Ablage zu heben, schaffte es aber bis zu den Kleiderhaken nur, die Kräfte verließen sie dann, der Koffer fiel runter – auf die leeren Sitze gottlob. Sie schaute sich um. Passagiere. Mitreisende. Leute. Jedes der Gesichter erzählte ein Leben. Stand so in einem Buch, das sie in den Ferien gelesen hatte. Dieses Leben konnte gelungen sein oder nicht. Ein Passagier konnte ein Kotzbrocken sein, der andere ein gescheiterter Zauberer, wieder ein anderer ein astreiner Engel. Sie fragte schließlich einen alten Mann, der in der Reihe neben ihr eine Zeitung las. Dass er alt war, erkannte sie, weil er eine Zeitung fast ohne Bilder las. – Helfen Sie mir bitte?, fragte Uma. Die Frage geriet ihr zwar leise, aber verständlich.

Jazz Podium dahoam

JAZZ PODIUM ist nun umgezogen. Am vergangenen Freitag; von Stuttgart Vogelsangstraße 32, wo es Jahrzehnte residierte, zu uns. Die Adresse lautet nun, fast wie bestellt:  Am Neuland 12.  Wird auch Neuland. Obwohl nicht komplett, weil wir ja wenigstens partiell in manch einem Bereich vom Fach sind. Wird schon – und wird anders. Für alle ums Jazz Podium rum. Für diejenigen, die sich verabschieden, und diejenigen, die da sein werden, diejenigen, die es lange gemacht haben, und diejenigen, die es machen werden. Für die Leser auch. Wir schauen, was geht, dann sehen wir, was kommt. Jetzt aber eine Danksagung, die bei  jedem Buch/Blog, jedem längeren Wisch im Prinzip, der nicht von kompletter Egomanie geprägt ist, oft an den Anfang gehört. Danke zunächst an die Stuttgarter, die all das Archiv ganz solide und überaus vernünftig verpackt hatten, so dass es bei uns im perfekten Zustand ankam; an Frau Endress, an Frau Zimmerle und Frau Walker,  ebenso an Herrn Zimmerle und Herrn Weiller. Nicht weniger großen Dank aber an die Helfer, die bei uns im Dunkeln und leichten Regen die deutlich über 100 Kisten plus paar Metallschränke und Mobiliar in einer Rekordzeit – wie vornehmlich der Hanseate gelegentlich von sich gibt: wuppten. (Erster Stock, ohne Aufzug.) Danke also an Maria, Silke, Regina, Helena, Balthasar, Helmut, Malte, Vincent. Bedanken wollen wir uns ebenfalls bei der Umzugsfirma Bär. Wir werden uns gern an den netten Trupp aus noch jungen Leuten erinnern, mit denen man nicht nur über dies, sondern auch über „Jazz Podium dahoam“ weiterlesen