Uma steigt ein

Uma steigt ein – und aus

 

– Steig ein, sagte Mama, und Uma stieg ein. Die Mama rief noch: – Und grüß mir den Papa, mein Mädchen. Vom Eingang aus winkte Uma der Mama, dann schloss die Zugtür schon. Uma rieb sich die feuchte Stelle auf ihrer Wange ab, die Mamas Kuss hinterlassen hatte, und rollte ihren Koffer vor zu ihrem Platz. Wagen 511, Sitz Nummer 51, eine Eins machte da den Unterschied nur. Fünfhundertelf minus 51, was ergibt das? Wie viel noch? Sie rechnete im Gang mit den Fingern. Weniger als Fünfhundert, das auf jeden Fall, aber … Da drückte von hinten jemand gegen sie. Dermaßen gewaltig, dass sie fast umfiel. Gerade so noch konnte sie sich festhalten. Am Haar einer Frau im Sitz daneben. Uma flüsterte: – Entschuldigung. Die Frau schaute nicht mal hoch zu ihr. Von hinten hörte Uma stattdessen eine Männerstimme voll Ungeduld sagen: – Los, los Kleine, aus dem Weg jetzt. Uma machte sich dünn. Ein dicker Mann fast ohne Kopfhaar, der eine schwere Sporttasche über der Schulter trug, zwängte sich an ihr vorbei. Kein Haar auf dem Kopf, dafür wucherten seine Brauen üppig und auch aus der Nase sprossen ihm schwarze Härchen. Uma sandte dem Mann einen stummen Fluch hinterher: Des Belzebub Fluch sei mit dir, du bist kein Mensch, du bist ein Tier. Nicht dass der Fluch jemals gewirkt hätte, aber er besserte Umas Laune. An ihrem Platz angekommen, öffnete Uma mit einem geübten Ruck den Reißverschluss des karierten Koffers, den ihr die Mama vor zwei, drei, nein, gar nicht wahr, vor vier Jahren vom Kongress der Physiker in Glasgow mitgebracht hatte. Sie klappte den Deckel auf. Den im Batteriefach rostigen CD-Spieler, den ihr Vater auf einem Flohmarkt aufgetrieben hatte, nahm sie heraus – sowie eine Brotzeitdose, die Vollkornsemmeln in der Tüte, das Taschenmesser, die Schachtel mit den Feen aus Filz. Sie steckte all das in das Netz, das unten an der Rückenlehne des Sitzes vor ihr angebracht war. Eine Weile wühlte sie noch im Koffer. Wo waren denn zum Teufel noch mal die Plüschkatze und das wollene Haflinger-Fohlen, das ihr Onkel Egon, der Förster vom Silberwald, geschenkt hatte? Hier im Koffer waren sie jedenfalls nicht. Sie hielt die Tränen zurück, klappte den Deckel zu, schloss den Verschluss. Der Mensch war nicht perfekt. Nie gewesen. Sonst wäre er nämlich schneller als das Gepardmännchen. Und besser gekleidet als der Ara. Und netter anzuschauen als jedes Reh. Und kräftiger als eine Ameise. Sie versuchte ihren Koffer in die Ablage zu heben, schaffte es aber bis zu den Kleiderhaken nur, die Kräfte verließen sie dann, der Koffer fiel runter – auf die leeren Sitze gottlob. Sie schaute sich um. Passagiere. Mitreisende. Leute. Jedes der Gesichter erzählte ein Leben. Stand so in einem Buch, das sie in den Ferien gelesen hatte. Dieses Leben konnte gelungen sein oder nicht. Ein Passagier konnte ein Kotzbrocken sein, der andere ein gescheiterter Zauberer, wieder ein anderer ein astreiner Engel. Sie fragte schließlich einen alten Mann, der in der Reihe neben ihr eine Zeitung las. Dass er alt war, erkannte sie, weil er eine Zeitung fast ohne Bilder las. – Helfen Sie mir bitte?, fragte Uma. Die Frage geriet ihr zwar leise, aber verständlich. Verstanden zu werden, war laut Mama, das A und das O des menschlichen Miteinanders – das Alpha und das Omega also, der erste und der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets. Zu bitten war unbedingt notwendig. Eine Bitte öffne Augen, Türen, Tore und letztlich das Herz, sagte ihr Papa mal – und schaute ihr tief in die Augen, den Spiegel der Seele. Der Mann blickte von der Zeitung auf, sagte sofort: – Ja, ja, selbstverständlich helfe ich der Dame, stand auf und hob Umas Koffer mühelos in die Ablage hoch. Uma machte einen Knicks. Die Mama wollte es so. Der alte Mann lächelte und verneigte sich vor Uma mit der Hand vor der Brust, wie es einst Ritter taten. Uma lächelte ihn an, zeigte dabei ihre schiefen Vorderzähne und all die Lücken daneben und dahinter. Der Mann setzte sich wieder hin und schlug die Zeitung auf. Die erste Seite berichtete von einem Banküberfall in München. Eine halbe Million für zwei gewiefte Herren, lautete die Schlagzeile. Uma strengte ihre Augen an. Keiner der Bankangestellten sei mutig genug gewesen, um die Räuber zu stoppen, das stand drunter. Es hieß aber, ein Mutiger reiche aus, um die ganze Welt zu retten. Hieß so auf dem Dezemberblatt im Kalender zu Hause. Etwas deppert. Eine halbe Million, wie viele Butterhörnchen waren das, wenn ein Butterhörnchen im Ökomarkt einen Euro und fünfzehn Cent kostete? Sie dachte nach. Einen Augenblick. Und noch einen. Zu viele. Diese Menge Hörnchen konnte keiner je essen. Der Zug fuhr an, entwickelte langsam Geschwindigkeit. Doch erst als die Stadt verschwand, schoss er mit fast 200 Kilometern in der Stunde durch die Felder. Uma klebte mit der Stirn am Panoramafenster und hauchte es an, um an der angehauchten Stelle Buchstaben zu schreiben. Buchstaben, die Wörter ergaben, die sie dann von hinten las und sich möglichst flott einzuprägen versuchte. Ihre Mütze hatte Uma nicht abgenommen. Die selbst gestrickte Mütze von der Oma-Fürstenfeldbruck. Ihre Ohren glühten, doch sie nahm die Mütze nicht ab. Wegen. Weil. Sie nahm sie eben nicht ab. Sie schaute hinaus. Felder. Felder mit nichts drauf. Nackte Erde nur. Häuser, die sich ähnelten. Masten. Gleise. Kleine Bahnhöfe, die schnell vorbeihuschten. Menschen, dick eingepackt, weil es kalt war. Minusgrade. In München zumindest. Sie hatte kein Bauchweh mehr, i wo. Das war wohl nur die Aufregung. Sie entfernte die Wärmflasche aus dem Hosenbund und klemmte sie mühsam ins Netz, das jetzt voll war. Sie hauchte die Scheibe an und schrieb LEA, und als der Name verschwand schrieb sie HELENA, und als dieser weg war PHILIPPA. Dann schrieb sie die Namen ihrer übrigen Freunde. Nur der echten Freunde aber. Fast war sie versucht, NORA zu schreiben. NORA und REBECCA und VANESSA und auch noch die Jungennamen, aber im rechten Augenblick fiel es ihr ein. Das ging nicht. Das waren Feinde. Gut, vielleicht nicht direkt Feinde. Diese Mädchen liebte sie halt nicht so sehr wie die anderen und wollte sie deshalb nicht mit ins Wochenende nehmen. Es war aber schwer, nicht an die Schule zu denken und damit an alle Mädchen in der Klasse. Hausaufgaben hatte sie keine auf, obwohl sie doch heute, an diesem Freitag, in der Schule entschuldigt fehlen durfte. Aber die Frau Taffertshofer wird bestimmt in der ersten Schulstunde am Montag fragen: – Was habt ihr am Wochenende unternommen? Reihum bitte. Und irgendwann wäre dann auch Uma dran, die sagen müsste: – Ich war in Hamburg, zu Besuch. Damit würde sie sich durchzumogeln versuchen. Sie wollte nicht von Papa erzählen müssen. Es war ihr peinlich, dass er so weit weg war. Als wolle er nichts von seinem Kind wissen. Ein Sonntagspapa, ein Ferienprogrammpapa, ein Ausnahmsweise-Papa. Auf Sank Pauli wohnte er, wo er  zwischen fremden Instrumenten und komischem Federschmuck und mit der Doro den Sinn des Lebens suchte. Er ging von ihnen weg als Uma vier war, vor fünf Jahren also. Uma glühten die Ohren, aber die Mütze nahm sie nicht ab. Sie wischte die Scheibe sauber. Sandige Pfade inmitten von Wäldern. Mit Folie bedecktes Holz. Felder und Masten. Wieder ein Waldstück, volle Tannen und kahle Buchen. Eine Unterführung, Gleise. Menschen auf Rädern und ohne. Tiere. Zu klein, um zu sagen welche. Blätterhaufen. Sie machte die Dose auf, nahm eine der geschälten Mandarinen heraus. I wo, Uma hatte nichts gegen Kerne. Die spuckte sie aus. So. Da waren sie alle, in ihrer hohlen Hand. Sie zählte sie. Acht. Acht Kerne in dieser winzigen Mandarine. Das war ihr Rekord. Sie aß noch eine. Elf Kerne. Wieder ein Rekord. Es war glasklar eine Fahrt der Rekorde. Es waren keine Bio-Mandarinen, deshalb hatte die Mama sie geschält. Finger mit Gift dran fand sie nicht gut. Ja Sakrament, sie musste ja noch die Vollkornsemmeln essen. Jetzt. Jetzt aß sie die. Sie kaute lange, damit es im Magen nicht schwer wurde. Mama legte viel Wert auf langes Kauen. Sie machten gemeinsam sogar Kauübungen. An Mittwoch, beim Abendbrot. Uma legte, nachdem sie sich die Finger ordentlich mit der beigelegten Serviette abgeputzt hatte, eine CD in ihren Spieler ein. Die mit dem Mädchen und dem Skateboard. Sie hatte ab diesem Schuljahr Englisch, aber sie verstand die Liedtexte nicht. Erst erklang eine traurige Trompete, danach wurde es aber wild und lustig, und Uma musste, sie musste wirklich und tatsächlich mit verstellter Stimme mitsingen, denn gegen gute Musik war sie machtlos. Ein paar Köpfe drehten sich nach Uma, aber das machte nichts, sie sang das Lied durch. Das nächste dann auch. Sie wurde allmählich heiser, schaltete den Spieler deshalb aus. Felder, nichts als Felder. Ihre Mama saß im Institut, vor sich diese ganzen Tabellen, im Hintergrund aber brummte die Forschung. Die Forschung oder die Forscher, ungefähr das. Im Fenster spiegelte sich kurz ihr eigenes Gesicht. In der Ruhe liegt alle Kraft des Lebens. Das erinnerte sie noch. Das sagte ihr Papa im Schneidersitz, die Augen zu. Flink zog sie die Schuhe aus und richtete sich im Schneidersitz ein. Sie wollte wissen, ob Papas Worte stimmten. Sie schloss die Augen und harrte aus. Noch dreißig Sekunden. Und noch. Das hier hatte mit Yoga nicht viel zu tun, aber sie verstand was von Yoga, klar. Papa hatte sie doch einige Male mitgenommen. Sie wusste ganz genau wie die Übung ging, die Hund hieß. Sie konnte auch den Drachen oder die Heuschrecke oder die Katze machen. Nein, einen Drachen gab es wohl nicht, da hatte sie etwas falsch verstanden.  – Was machst du da? Uma öffnete die Augen. Vor ihr stand ein Junge mit dem Gesicht eines  Erwachsenen, die Lippen ein Strich, die Hände zu Fäusten geballt an der Hosennaht. Er kaute einen Kaugummi, machte damit dann und wann Blasen, die er mit Hilfe eines Zahnstochers platzen ließ. Vielleicht ein Erstklässler, vielleicht noch nicht. – Was machst du da? Fragte er erneut, zwischen einer Blase und einer anderen. – Ich sitze, sagte Uma. – Warum  so? Der Junge ließ nicht locker. Es machte päng! als er eine Blase platzen ließ. Uma zuckte die Schulter, sagte: – Ist bequem. Der Junge starrte sie an und sie fragte ihn: – Magst du versuchen? Der Junge sagte nicht ja und nicht nein, setzte sich nur neben sie. – Schließ die Augen, wies ihn Uma an. – Die Hände sind derweil offen, ruhen auf den Knien, die Finger zeigen Richtung Himmel. So ungefähr ging das, sofern sie sich noch erinnern konnte.  Der Junge setzte sich genau so, wie Uma es haben wollte. Sie zählte bis sechzig und noch ein bisschen und fragte dann: – Wie ist es? Der Junge schloss die Augen auf, seine Miene war ernst. – Zeug, Krempel. Kakerlakenkacke. Nix für mich. Sagte er und stand auf. Eine rosige Blase kam kaum aus seinem Mund, da benutzte er schon den Zahnstocher. Der Kaugummi klebte nun um seinen Mund. Er sammelte ihn mit der Zungenspitze auf. – Wie heißt du? Fragte er zwischendurch. – Uma. Sagte Uma. Der Junge klatschte sich gegen die Stirn. – Was ist denn das für Name? Es war keine Frage, er wunderte sich nur. – Der Name einer Göttin aus Asien, sagte Uma gelassen. Der Junge entfernte seine Hand von der Stirn und sagte mit ernstem Gesicht: – Komm mit. Uma rührte sich nicht vom Fleck. Wer war er schon, dass er ihr irgendetwas befahl. Und wieder sagte er: – Komm mit. So bestimmt wie ein Erwachsener. Uma blickte nach oben zum Koffer, nach unten zum Netz. – Komm schon, sagte der Junge, jetzt noch eine Spur ungeduldiger und kniff missmutig die Augen zusammen. Uma erhob sich und trottete hinter ihm her den Gang entlang. Keiner von ihnen sagte was. Bis sie an ein Abteil kamen, das im Waggon der Ersten Klasse untergebracht war. Der Junge schob die Tür beiseite und rief in den Raum hinein: – Da ist sie. Uma wagte sich vor, an die Schwelle des Abteils. In der Mitte des Dreisitzers saß eine einzige Frau. Ihre Füße, von denen sie die aufwändig bestickten Stiefel gestreift hatte, lagen auf dem Sessel gegenüber. Von Goldfäden durchwobene Seidenstrümpfe sowie ein minimaler Minirock kleideten sie ein wenig zu dünn für diese Jahreszeit. Sie winkte Uma heran, die nach kurzem Zögern über die Schwelle ins Abteil trat. Die Frau richtete sich auf den Ellbogen auf, ohne die Beine einzuziehen. Ihre Lippen, mit rotem Stift bemalt, funkelten als sie sagte: – Da bist du ja. Sie legte Traurigkeit in ihre Stimme als sie fortsetzte: – So alleine unterwegs. Ich habe mir sofort Sorgen gemacht. Weil ich ja weiß, wie einer Mama zumute sein muss, wenn sie ihr Kind auf Reisen schickt. Sie stirbt tausend Tode. Ihr Kücken alleine unterwegs. Ich habe dem Walter sofort gesagt: Suche sie, das Mädchen braucht unseren Schutz. Ein breites Lächeln folgte, funkelnd und perlend, bevor sie sagte: – Wunderschöne Zöpfe hast du da. Gottogott, was hätte ich seinerzeit für ein Mädchen gegeben. Und wieder zeigte sie ihre Zahnreihen vor, weiß und eben – es sollte ein Lächeln sein. Sie sagte eilig: – Wir können bis Hamburg zusammen bleiben. Es ist eine lange Fahrt. Wir passen auf dich auf und dir wird nicht langweilig. Nicht wahr, Walter, das tun wir doch? Walter antwortete nicht, machte sich gerade an einer Plastiktüte zu schaffen, die er seinem Schalenkoffer eben entnommen hatte. Die Frau sagte, nach einem kurzen Blick auf Walter, den Kopf vorgeschoben, die Stimme senkend: – Er ist etwas frühreif. Muss unbedingt nächsten Herbst in die Schule. Das kommt vom Fernsehen. Muss vom Fernsehen kommen. Da läuft so viel Zeug. Man muss das Fernsehen nicht verdammen, aber da läuft so viel Zeug. Und der merkt sich alles. Buchstäblich alles. Obwohl nicht alles gleich wichtig ist, nicht wahr. Wir halten es kaum noch aus mit ihm. Er will alles wissen. Bohrt Löcher, wo keine hingehören. In den Bauch zum Beispiel. Und als Uma nicht lachte, sagte sie sogleich, die weißen Zähne vom Lippenglanz umrahmt: – Ein Scherz natürlich. Ein unschuldiger kleiner Scherz für Zwischendurch. Walter, mit dem Öffnen der Tüte beschäftigt, rollte mit den Augen. Was seine Mutter sagte, gefiel ihm wohl nicht. Uma verstand ihn. Eine solche Mutter war nicht nur anstrengend, sie konnte auch peinlich sein. Diese Mutter – wie jede andere Mutter auch. Die Frau hauchte steil nach oben und entfernte so eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Die Pause nutzte Uma aus, um zu sagen: – Mama hat mir verboten mit Fremden zu sprechen.  Walter, der immer noch an der Tüte riss, merkte leise an: – Das aber, liebe Uma, hast du gerade gemacht. Uma tat, als hätte sie seine Worte nicht gehört. Walters Mutter zielte mit einem spitzen, silbern glänzenden Fingernagel nach Uma und sagte: – Aber, aber. Wir sind keine Fremden. Bist du nicht aus Giesing? Uma nickte. – Na also. Wir auch. Du gehst doch in die 3b? Uma nickte. – Bitteschön. Du bist ein nettes Mädchen, das viele mögen, das keinem wehtun kann und lauter Einsen nach Hause bringt? Uma nickte. – Der Walter und ich, wir kennen dich gut. Wenn keiner hinschaut trittst du doch gern in Pfützen, dass es bis zu den Oberschenkeln spritzt. Uma nickte. – Du pfeifst gut. In der letzten Woche diese Melodie aus der Seefahrt nach Rio, richtig? Uma nickte. – Wir sind uns nicht fremd. Wir mögen nebeneinander leben, uns nicht oft begegnen, aber wir sind im Grunde Nachbarn. Weißt du wo die Eisdiele ist? Uma nickte. – Daneben wohnen wir. Ich und der Walter. Das Haus, das wie ein Schloss von einem der Ludwigs aussieht, aber erst vorigen Sommer fertig gestellt wurde. Das mit den vielen Säulen. Dort wohnen wir. Wir und der Vater von Walter. Wenn er nicht gerade alte Bilder verkauft oder mit seinen Freunden, die eigentlich keine Freunde sein können, bei ihrem Benehmen, wenn er nicht mit seinen Wasauchimmer beim Tauchen ist. Uma hatte das Knistern neben ihr endgültig satt. Sie nahm Walter die Tüte aus der Hand und riss sie mit einem Ruck auf, reichte sie dann wieder Walter, der ihr vom Tüteninhalt sogleich etwas anbot. – Greif zu, sagte er. Uma griff in die Tüte und zog ein Bonbon heraus, sich mit einem Knicks automatisch bedankend. Walter entnahm seinerseits der Tüte eine Handvoll Bonbons, die er alle gleichzeitig in den Mund steckte. Es knackte laut und lange, als er sie Stück für Stück zerbiss. Seine Mutter aber, nun aufrecht sitzend, hielt sich die Ohren zu. Murmelte nur: – Welch ein Lärm, welch unerträglicher Lärm. Und: – Ein Mädchen muss her, bitte ein Mädchen. Kurz danach beugte sie sich vor, um Uma durchs Haar zu fahren, doch Uma wich zurück und verschwand wortlos aus dem Abteil. Im Gang, auf dem Weg zurück in den Großraum der Zweiten Klasse, hörte sie hinter sich Schritte. Sie wurde langsamer. Walter packte sie am Ellbogen. Sie drehte sich kaum um, da sagte er schon: – Die ist harmlos. Mach dir nichts aus ihr. Jedes Kind bekommt die Mutter, die es verdient. Das sagt mein Vater oft. Als Uma nichts erwiderte, rollte er mit den Augen, dass nur das Weiß zu sehen war, und sagte danach leise, mehr für sich: – Ich muss mit ihr leben. Ich weiß zwar mehr als sie, aber sie bestimmt. Das ist sehr ungerecht. Aber die Welt ist nun mal ungerecht. Uma nickte, als hätte sie es verstanden. Walter fragte, da waren sie schon an Umas Sitzplatz angekommen, saßen sogar nebeneinander: – Was machen wir? Uma zuckte die Schulter. Walter schielte nicht wenig, stellte sie gerade fest. Der Zug verlangsamte sein Tempo. Bremsen quietschten. Der Zug blieb in den Feldern stehen. – Spionieren? Oder Passagiere zählen? Oder das Klo verstopfen? Am Ende spielten sie Karten, die Walter aus der Armtasche seiner Jacke mit den vielen Reißverschlüssen zog. Walter zeigte Uma ein paar Tricks, die eigentlich keine Tricks waren, bloß einigermaßen geschickte Schummeleien. Sie lachten sogar ein bisschen miteinander – obwohl Walter ein Junge war. – Du bist ein Mädchen, aber das macht nichts. Sagte Walter da, als könne er Umas Gedanken lesen. Als die Karten ihn zu langweilen begannen, nach wenigen Minuten schon, zog Walter aus einer seiner Brusttaschen Lollis  in allen Farben. Dunkelrot für Johannisbeeren, gelb für Ananas, grün für Kiwi, orange für Apfelsine … Walter forderte Uma auf, sich einen Lolli zu nehmen. Ihre Mama fände das nicht gut, ganz und gar nicht gut fände sie das. Bei der Zahnpflege verstand ihre Mama keinen Spaß. Wenn es wenigstens ein Öko-Lolli wäre … Walter wurde nachdrücklicher: – Greif zu. Ist alles öko. Uma staunte, denn nun war klar: Walter konnte ihre Gedanken lesen. – Hundert pro, sagte Walter, Rohrohrzucker, Pipapo. Greif zu. Sie wählte hellgrün für Apfel. Exotisches Obst wie Ananas oder Kiwi, weil es von weit her transportiert werden musste, war ihrer Mama nicht lieb. – Was ist mit deinen Mandarinen aber? Fragte Walter, nachdem er ihren nächsten Gedanken gelesen hatte. – Die kommen aus Italien, das ist nahe, ist erlaubt. Sagte Uma. Sie schaute sich Walter genauer an. Nichts Ungewöhnliches. Ein kleiner, ernster Junge mit einem Käppi. Sie nahm den Finger aus der Nase und fragte: – Woher weißt du, was ich gerade denke? Walter lutschte beide Seiten seines Lollis gleichmäßig ab, hielt den Lolli gegen das Licht, das durchs Fenster drang, schüttelte den Kopf, sagte: – Noch nicht. Der Lolli muss so sehr abgelutscht sein, dass das Tageslicht durchschimmern kann, dann ist er richtig. Dann ist er so, dass du mit ihm Briefe öffnen kannst. Scharf wie eine Rasierklinge. Uma fragte wieder, etwas verärgert schon, weil sie sich wiederholen musste: – Woher weißt du es? Walter nahm den Lolli aus dem Mund. – Deduktion, sagte er den zuckerigen Saft ansaugend. Danach steckte er sich den Lolli wieder in den Mund. – Dedu was? Fragte Uma. – De-duk-tion, sagte Walter, seinerseits mit Ärger in der Stimme, da nun er sich wiederholen musste. Den Lolli in der Hand ergänzte er: – Ich denke scharf darüber nach, was eine Person in meiner Nähe in diesem oder jenem Augenblick beschäftigt. Meistens liege ich richtig, bei dir vielleicht sogar immer. Das zeigt mir, dass wir irgendwo verwandt sind. Nicht über das Blut, über den Geist. Hierbei tippte er sich an den Schädel, wo sein Gehirn saß. – Aha. Sagte Uma und widmete sich dem Geschehen hinter der Panoramascheibe. Auch Walter wurde still – den Lollistiel in der Hand, aus dem er einen Haken geformt hatte, um sich am Ohr zu kratzen. Minuten vergingen, keiner sagte was. Sie langweilten sich tüchtig. Ein Mobiltelefon klingelte. Die Melodie eines strammen Marsches. Der dickte Herr mit wenig Kopfhaar im Sitz vor ihnen, der bislang schlaff im Sessel hing, erwachte zum Leben. Er murmelte ins Telefon: – Ja, ja. Schon gut. Auf dem Gang. Er stand auf, das Hemd stopfte er in die Hose. Uma flüsterte: – Den mag ich nicht. Walter entgegnete: – Ich weiß, er war nicht nett zu dir. Uma nickte. Obwohl sie ja vorhatte, nicht mehr zu nicken. Frau Taffertshofer, die die Uma nun wirklich sehr liebte, hielt einmal Umas Nicken nicht mehr aus. Uma solle bitte lieber etwas im Unterricht sagen. Da sagte Uma ohne groß zu überlegen: – Ich wünsche mir einen Cowboy als Mann. Die 3b lachte. Dabei mochte ihre Mama das Lied mit diesem Titel über alles. Ich wünsche mir einen Cowboy als Mann. Ihre gute Mama, die den Tag für sich und Uma bis in die kleinste Kleinigkeit organisierte. Nicht einen Tag könnte diese Mama mit einem Cowboy als Mann aushalten, todsicher. Walter sagte: – Nicht schlimm, dass sie gelacht haben. Auch du bist nur ein Mensch. Auch du hast ein Recht auf Fehler. Uma zog einen erstaunlich festen Popel aus der Nase. Er hatte die Form einer Hexe. Mit einem Besen zwischen den Beinen und einem spitzen Hut. Tatsache, eine Hexe. Sie streifte die Hexe am Hosenbein ab. Der dicke Mann passierte gerade ihre Reihe, lauthals schnaufend. Seine prall gefüllte Tasche trug er über der einen Schulter. Mit ihr stieß er links wie rechts gegen die Lehnen. Walter schubste Uma an und flüsterte: – Los, hinterher. Zeit für Spionage. Spio was?, wollte Uma fragen, biss sich aber rechtzeitig noch auf die Zunge. Sie hatte nicht vor, als eine Landpomeranze dazustehen. Landpomeranze, das Wort mochte sie. Das war vielleicht jemand, der nicht viel wusste, dafür aber schön duftete. So folgten sie dem Mann, immer fünf Schritte von ihm entfernt. Durch zwei Waggons folgten sie ihm. Im Gang zum dritten Waggon, auf der Höhe der Toiletten,  blieb der Mann stehen. Ein hagerer Mann mit abstehenden Ohren und ebenfalls im Anzug und Krawatte trat vom anderen Gangende an ihn heran. Uma und Walter drückten sich an die Ziehharmonika, die die Waggons verband, und taten so, als würden sie in den Falten etwas suchen. Zur Begrüßung sagte der dicke Mann: – Diese dämlichen Züge, und wischte sich mit einem Taschentuch die verschwitzte Stirn ab. Dem anderen Mann liefen die Segelohren rot an, er stammelte: – Aber Herr Präsident. Der Präsident winkte ab: – Ja, ich weiß. Ich weiß nur zu gut, Molnar. Kein Wort mehr darüber. Wie war ihr Steak? Blutig genug? Molnar machte ein angewidertes Gesicht. Offenbar hatte ihm das Steak nicht geschmeckt. Der Präsident lachte schallend, dass ihm die Lunge dröhnte und er hernach nach Luft schnappen musste. Molnar, wohl etwas gekränkt, fragte mit einem Lächeln: – Wie war denn die Zweite Klasse, Herr Präsident? Augenblicklich hörte der Präsident auf zu lachen und wurde ernst: – Anders als die Erste, Molnar. Eine Zumutung im Prinzip. Ich beneide das Volk jedenfalls nicht. Ein Mal im Jahr kann ich das machen. Reisen Zweiter Klasse, nullski Problemski. Sollte mich jemand erkennen, ist das besser so, ganz ohne Zweifel. Uma und Walter spitzen die Ohren, nun zur Deutschlandkarte an der Gangwand wechselnd und dort mit den Fingern zwischen Cottbus und Unna hin und her fahrend, scheinbar in diese Tätigkeit vertieft. Uma suchte Walters Ohr und flüsterte darein: – Räuber. Das sind Bankräuber. Sie flüsterte ihm auch von der Schlagzeile in der Zeitung. Beide Kinder spähten um die Ecke. Molnar zeigte gerade auf seine Tasche, die exakt gleich aussah wie die vom Präsidenten. – Bald kommt Kassel. Legen wir los, was denken Sie? Der Präsident antwortete nicht mal, schulterte die Tasche und war schon dabei zu verschwinden, stockte aber plötzlich. Warf die Tasche mit einem Ruuumms! ab und sagte:  – Ein Getränk. Ich brauche davor noch einen Alkohol, sonst komme ich nicht runter. Es sei denn, Sie wollen eine Explosion sofort, Molnar. Molnar straffte seinen schmalen Körper, als wolle er salutieren. Er sagte: – Jawohl, Herr Präsident. Sie steuerten die Erste Klasse an, wo sie in einem leeren Abteil ihre Taschen abwarfen – mit einem doppelten Ruumms!, ganz klar. Dann machten sie sich auf den Weg in den Speisewagen. Uma und Walter waren ihnen, sachte, ganz sachte, an der Wand entlang, nachgeschlichen. Schlichen auch weiter zum Restaurant nach. Am Tisch angekommen, plumpste der Präsident in den Sessel, derweil sich Molnar umständlich platzierte. Die Kinder betrachteten die Männer von der Schwelle des Speisewagens aus. Uma zählte ihr Geld. Für eine Limo und zwei Strohhalme dürfte es reichen. – Eine Bombe, hauchte Walter Uma ins Ohr. – Das sind miese Bombenleger. Uma blickte ihn von Furcht erfüllt an: – Liest du ihre Gedanken? Walter schüttelte ein Nein mit dem Kopf, sodass ihm sein überlanges Haar das Gesicht peitschte. Er sagte dann leise: –  Erwachsene verstehe ich nie. Ich wünsche mir aber so lange schon eine versteckte Bombe, die ich dann entschärfe. Schon verdammt lange. Seitdem ich vier bin ungefähr. Uma lächelte knapp. Sie konnte Erwachsene auch nicht verstehen. Das da aber waren Verbrecher. Was tun also? Unrecht ist Unrecht und gehört bestraft. Sagte der Onkel Egon mal – die Flinte über der Schulter und auf dem Weg in den Silberwald, um die vom Fuchs fortgeschleppten Laufenten zu rächen. War ihr jetzt klar, was zu tun war? Ja. Uma und Walter setzten sich an einem Tisch, der an den Tisch der beiden Männer angrenzte. Sie saßen im Rücken des Präsidenten. Und schon rief der Präsident, als gehöre ihm der Saal: – Bier! Molnar lächelte den Präsidenten freundlich an, sagte: – Das wird schon, Herr Präsident. Wir drehen das Ding. In Kluft sehen sie bestimmt bombig aus. Das haut den Maha um. Der Präsident, der mit den Fingern beider Hände nervös gegen das Tischblatt trommelte, was Uma und Walter vor allem hören konnten, sagte: – Bin gar nicht nervös. Nur möchte ich es endlich knallen lassen, das ist alles. Punktum. Molnar zog die Brauen hoch und nickte zustimmend. Der Präsident machte weiter: – Ich komme mir dermaßen dämlich vor. Ich könnte kotzen. Molnar sagte bestimmt: – Es muss sein. Wir müssen da durch. Darauf der Präsident: – Aber keine Überraschungen vom Maha. Keine Leichen im gottverdammten Keller. Molnar sagte sofort: – Keine. Bestimmt nicht. Der Maha ist rein wie ein Säuglingspopo nach Badewanneneinsatz. Der Präsident rutschte aufgeregt in seinem Sessel: – Sparen Sie sich die Vergleiche, Molnar. Die gehen nie auf. Das ist mein Rat für Ihr Leben, Molnar. Und nach einer Weile: – Wir dürfen es nicht vermasseln. Keine Fehler. Fehler sind tödlich. Für sein Bier bedankte sich der Präsident beim Kellner nicht. Er hob das Glas an die Lippen und trank es in einem Zug leer. Die beiden Männer standen auf. Im Stehen legte der Präsident eine Banknote auf den Tisch. Viel zu viel für ein Bier, wie Uma feststellte. Uma und Walter sogen die Limo vom Flaschenboden und standen gleich danach ebenfalls auf. Die Männer wechselten ins Bistro, wo sich der Präsident eine Zigarre anzündete und an einem der Stehtische lehnte, während Molnar die Hände in Brusthöhe verschränkte und ungeduldig mit der Schuhspitze gegen den Tischfuß trat. Walter zog Uma vor ein Erste Klasse-Abteil, in das mit den zwei Taschen, wie Uma gleich bemerkte. Er erklärte ihr kurz, was er vorhatte. Uma wollte erst nicht so recht, aber Walter drängte – und sie gab nach. Also blieb Walter im Abteil, während Uma ins Bistro zurückkehrte, ein Tütchen gesalzene Erdnüsse kaufte und eine Erdnuss nach der anderen bedächtig aß. Die beiden Männer wechselten kein Wort mehr. Der Präsident rauchte seine Zigarre nicht auf. Er löschte die Zigarrenglut im Aschenbecher und steckte die erloschene Zigarre wieder ein. Er schnippte mit den Fingern – und Molnar folgte ihm. Uma dachte an Walter, der noch im Abteil der Räuber war. Sie hustete laut zwei Mal, dass die Menschen um sie schauen mussten. Es war das verabredete Warnsignal. Ihre Unterlippe begann zu zittern. Was, wenn die Walter entdeckten? Als sich der Präsident an ihr vorbei zu drängen versuchte, überlegte sie nicht lange, sondern stellte ihm zack! ein Bein. Der Präsident stolperte, fiel aber nicht hin. Mit purpurnem Kopf ging er Uma an: – Pass mal auf, du Rotznase. Da stieß endlich der Walter dazu. Die Männer entfernten sich. Walter aber berichtete ohne Puste und Pause: – Da waren Zahlenschlösser an den Taschen. Zuerst versuchte ich es mit 000. Das gibt es als Geheimcode manchmal bei Leuten, die nichts in der Birne haben. 000 also. Das Schloss ging aber nicht auf. Auch ein 111 oder eine reiner Zweierreihe klappte nicht. Dreierreihe? Pustekuchen. 123 versuchte ich – auch nix. Dann umgekehrt – 321. Wieder nix. Ich probierte rum. Und auf einmal. Tat sich eines der Schlösser auf. Aber da kam schon dein Huster. Gerade noch konnte in die eine Tasche spicken. – Was war drin, was?, fragte Uma. Walter schluckte. – Eine Waffe. Ein Colt, sagte er. – Mit einer Trommel und einem rauen Griff und einem fingerdickem Lauf. Einen Moment lang schwiegen sie, wobei Umas Ohren unter der Mütze wieder zu glühen anfingen, Walter aber seine Lippen Mal ums Mal befeuchten musste. – Wir müssen es jemanden sagen, meinte Uma schon etwas wild mit den Armen fuchtelnd. – Wo ist der Schaffner, wo ist er? Sie liefen los, um den Schaffner zu suchen. Als sie ihn fanden, erklärte er gerade einer Frau die Bremsfunktion dieses Zuges. Hierzu stellte er sich breitbeinig auf und malte in der Luft riesige Räder gegen deren Drehbewegung er sich mit Händen und Füssen stemmte. Uma räusperte sich, wie es Erwachsene vor einer Anrede oft tun, und sagte leise: – Herr Schaffner, bitte … Der Schaffner drehte sich nicht mal um. – Herr Schaffner, bitte hören Sie uns an, sagte Uma, schon etwas lauter. Aber der Schaffner war beschäftigt, denn die Räder hatten sich zu drehen und die Bremsen zu bremsen. Da schob Walter die Uma beiseite und begann am unteren Ende der Schaffneruniform zu zerren, erst zögernd, bald aber heftiger. Der Schaffner, als er hinter sich blickte, sagte nur: – Ist gut, mein Junge. Lass los.  Und zisch ab. Er drückte Walter einen Stapel Kinderfahrkarten in die Hand. Das Rad, das der Schaffner dann in die Luft zeichnete, wurde noch größer, füllte das Großraumabteil vom Boden bis zur Decke. – Ein Depp, sagte Walter in Sicherheit des Ganges, und begutachtete gleich den Fahrkartenstapel, murmelte dabei zu sich: – Die habe ich, die noch nicht, die ja, die nein … – Was ist mit deiner Mama?, fragte Uma, den Finger in der Nase. Ihre Ohren glühten, o wie sie glühten. Walter winkte ab, die Augen noch an den Fahrkarten. – Ah die, sagte er. Die ist im Helfen ganz schlecht. Die traut mir nicht. Sie schauten sich an, kauten an Nägeln und der zitternden Unterlippe, bohrten in der Nase, überlegten. Da erinnerte sich Uma an den alten Mann, der ihr den Koffer hochgehoben hat. Sie liefen zurück in Umas Abteil. Der Mann war weg. Unterwegs ausgestiegen, in Fulda oder was? Seine Zeitung war aber da. Uma faltete sie auf, besah sich die Schlagzeile auf der ersten Seite, die über einen Inder, der  gerade zu Gast in Deutschland war, dann auch die Zeichnungen der Bankräuber. Zwei Männer, die aussahen wie eben Männer manchmal aussehen. Wenige Haare auf dem Kopf, kantiges Kinn, die Augen mehr oder weniger eng aneinander. Uma las den Artikel. Die Räuber hatten mit vorgehaltener Pistole fast Zweihunderttausend Euro erräubert. Sie wären gefährlich, ihr Aufenthaltsort unbekannt. Walter blinzelte mehrfach hintereinander vor Aufregung. Wie auf ein Kommando liefen sie vor zur Ersten Klasse. Unterwegs rempelten sie Leute an, ohne sich zu entschuldigen. Kurz vor dem Abteil vom Präsidenten und von Molnar bremsten sie ab. Langsam, sehr langsam sogar, pirschten sie sich an die Glastür heran. Ihre Gesichter pressten sie an die Scheibe. Doch der Vorhang auf der anderen Seite verhinderte jede Sicht. Sie sahen nichts. Legten deshalb ihre Ohren an die Tür. Hörten aber auch nichts. Es herrschte eine Ruhe, die nichts Gutes meinte, garantiert nichts Gutes. Just dann kam die Ansage. In wenigen Minuten  käme der Zug in Kassel an. Der Aufenthalt dort wäre diesmal länger als im Fahrplan beschrieben, wofür sich die Bahn im Voraus entschuldige. Bewegung kam in die Gänge. Die Leute packten ein und stürmten bald darauf vor zu den Ausgängen. Uma und Walter flüchteten zum Übergang zwischen Erster und Zweiter Klasse, warteten dort. Röte stieg Uma ins Gesicht, während Walter scharf nachdachte. – Wir müssen für einen Skandal sorgen, sagte er schließlich. – Für was?, fragte Uma. – Einen Skandal, Aufruhr, Klimbim, sodass viele Menschen merken, dass hier was nicht stimmt, ergänzte Walter. Uma war schon überzeugt. Manchmal neidete sie den bösen Buben an ihrer Schule den Mut. Manchmal wünschte sie, ganz anders zu sein. Auch mutiger. Ein kleines bisschen wenigstens. Walter erklärte: – Skandal ist zurzeit sehr in. Sagt meine Mutter, die es ja wissen sollte, denn sie hat kürzlich für einen Skandal beim Clubabend  gesorgt. Es war Sommer und sie trug nichts … Walter konnte den Satz nicht beenden, denn der Zug kam  gerade zum Stillstand. Die Türen glitten auf. Die ersten Passagiere verließen den Waggon. Uma und Walter blickten ihnen nach. Zuletzt stiegen zwei durch Mantel und Schal und Kapuze vermummte Gestalten aus. In ihnen erkannten die Kinder die Männer. Sie nahmen die drei Stufen – und traten auf den Bahnsteig. Uma und Walter reichten sich die Hand und sprangen mit einem Satz aus dem Zug. Nun waren sie in Kassel. Sie bewegten sich vor, den Männern nach. Plötzlich. Ein Blitzlicht. Und noch eins. Ein Blitzlichtgewitter schließlich. Uma und Walter waren in Eile. Vorwärts, nur vorwärts wollten sie. Endlich aber schauten sie hoch. Der Präsident und Molnar standen vor ihnen, groß und stämmig, den Rücken den Kindern zugekehrt. Eine Menschenmenge, an die fünfzig Leute wohl, baute sich wenige Meter vor den Männern gleich einer Wand auf. Die Menge blickte in die Männergesichter und stieß bewundernd entweder ein Ah! oder aber ein Oh! aus. Immer wieder zuckten Blitze aus den Fotoapparaten. Der Präsident und Molnar wurden fotografiert. Uma und Walter erstarrten. Aber nur kurz. Denn was sie gerade sahen, regte sie doch sehr auf. Sie sahen nämlich wie die beiden Männer ihre Mäntel abwarfen. Einfach so. Die Mäntel fielen auf den schmutzigen Bahnsteig. Sie sahen, wie der Präsident jetzt in einem roten Umhang da stand, den eckigen, roten Bischoffshut schräg über dem kahlen Kopf, Molnar aber in Felljoppe und Fellmütze und mit einer Rute in der Hand. Sie sahen, wie beide Männer gleichzeitig hinter die breiten Gürtel griffen und die Colts herauszerrten … Genau da, ohne sich zu verabreden, sprangen Uma und Walter. Uma auf den Rücken des Präsidenten, Walter auf den von Molnar. Sie sprangen und krallten sich an Schulter und Hals der Männer fest, die dennoch einen Schuss abgaben – geradewegs in die Luft. Ein außerordentlicher Knaller, der mordsmäßig hallte. Uma und Walter kratzten und bissen. Und sahen dann. Aus den Läufen der Colts kam … Konfetti. Regelrechte Konfettifontänen. Noch in den Schuss hinein rief die Menge: – Es lebe die Bahn!, während der Präsident gar kein gütiges Nikolausgesicht machte, sondern schlecht gelaunt dreinschaute, was bestimmt mit der Last auf seinem Rücken zu tun hatte. Durch kräftiges Schütteln versuchte er seit einer Weile Uma abzuwerfen. Es gelang ihm nicht, denn Uma hatte sich an seinem feschen Nikolauskostüm festgekrallt. Der Präsident stöhnte sogar vor Schmerz und Wut auf. Es hätte womöglich übel geendet, wenn nicht aus der Menge dieser Ruf gekommen wäre: – Unsere Kinder lieben ihn! Bestimmt hundert Hände applaudierten kräftig. – Jawohl! rief gleich darauf jemand anders. – Sie lieben den Bahnpräsidenten von Herzen! Ohrenbetäubender Applaus folgte. Eine Frauenstimme schloss sich an: – Ein Hoch auf den Präsidenten, die Kinder, den Nikolaus! – Hoch, hoch, hoch! Die Menge nahm den Gruß auf, während Molnar in den Lärm hinein fragte: – Und der Knecht Ruprecht, der Krampus oder wie er in Kassel heißt, was ist mit dem? Aber diese Frage interessierte gerade keinen. – Die Kinder lieben unseren Präsidenten! Als dieser Ruf erscholl, entspannten sich auf einen Schlag die Gesichtsmuskeln des Präsidenten, während Blitze der Pressefotografen nach wie vor zuckten. Uma hatte es vor, kam aber nicht dazu, sich zu schämen, denn der Präsident richtete sich zur vollen Größe auf, sodass Uma an seinem Rücken runter gleiten konnte, was Walter zeitgleich vom Rücken des Herrn Molnar tat. Der Präsident tätschelte Uma sanft den Kopf, hielt noch ihre Hand, als er die andere dem Gast entgegenstreckte, dem der Trubel am Bahnsteig ebenfalls galt. Es war ein kleiner Mann mit dunklem Gesicht, der einen knöchellangen goldglitzernden Rock trug und einen rosa Turban mit einem grünen Edelstein an der Stirn. Er verneigte sich tief vor dem Präsidenten – und dieser tat es ihm gleich, was dazu führte, dass ihm der Bischoffshut noch mehr verrutschte. Eine kleine Frau im Wickelkleid übersetzte die Willkommensworte des Präsidenten, der da sagte, er freue sich außerordentlich, den Maharadscha von Eschnapur in Kassel, von wo das berühmte Stück Fleisch wie die nicht minder berühmte Kunstschau stamme, zu begrüßen und hoffe sehr, dass eine Ausfahrt in diesem tollen Schnellzug, den Maharadscha überzeugen könne, in seinem fernen Land ein paar eben jener Schnellzüge bald schon einzusetzen. Noch auf dem Bahnsteig, Uma an der Hand, stießen der Maharadscha und der Präsident auf einen erfolgreichen Vertragsabschluss mit Gemüsesaft an. Danach stiegen sie ein. Im Zuggang umringten Uma und Walter die Presseleute, die genau wissen wollten, wie es zu dieser tollen Aktion kam. Während aber Uma oft nur die Antworten nickte, berichtete Walter von seiner Liebe zur Bahn, zeigte die Kinderfahrkarten vor, gab sich als Sammler, als jemand, der nur beim Rattern der Zugräder einschlafen könne, weshalb ihn sein Vater, der Konsul in Katmandu, fortwährend auf Reisen schicke … Ferner ließ sich Walter im Arm des Präsidenten ablichten, der breit und aus vollem Hals lachte. Die Menschenmenge kam im Speisewagen unter, der für diesen Zweck komplett geräumt wurde. Während der Zug seine 200 Kilometer in der Stunde fuhr, füllte der Maharadscha mit Hilfe des Präsidenten, dessen Bischoffshut vergessen und mit Dellen versehen unter dem Tisch lag, ein Formular aus. Walter bot zur gleichen Zeit der Presse Lollis an und pries ohne Unterlass die Schönheit von Katmandu. Uma aber trank ihre zweite Limo an diesem Tag, was ihrer Mama, sollte sie dies je erfahren … aber denken wir mal nicht dran. Uma trank jedenfalls aus und entfernte sich unbemerkt. Der Lärm verfolgte sie noch ein Stück Weges. Wieder an ihrem Sitzplatz hauchte sie zuerst die Scheibe an. Sie schrieb UMA. Und wartete bis sich ihr Name in der Luft auflöste.
In Hamburg-Altona stieg Uma aus. Ihr Vater nahm sie in den Arm, küsste sie und sagte: – Mein Mädchen. Eine Aura geht von dir aus, geliebter Ganges noch mal. War die Reise so schön? Uma boxte ihm in den Bauch, so dass er durchatmen musste – und nickte erst dann.