Todesarten

1 –

Das Brot machte ihn würgen. Ein Stück davon nämlich steckte in seiner Speiseröhre fest, verkantete in ihr. Das Brot, das er eben noch, in gutem Glauben an dessen sättigende Kraft und aber auch, das war sein Fehler wohl, mit reichlich Hunger im Stehen verschlungen hatte. Die Rinde knochentrocken, sonst: vollkommener Vollkorn – sofern man in dieser Lage Wortwitz betreiben wollte. Er suchte zu husten, abgestützt am Spülstein. Es misslang. Er trank aus dem Hahn. Keine Erleichterung, lediglich Schmerz. Er setzte sich an den Küchentisch. Ernährung war selbstverständlich das A und sogleich auch O der menschlichen Existenz. Nahrungsaufnahme bestimmte das Gehabe der gesamten Tierwelt doch. Der Kampf ums Dasein war ein Kampf um täglich Brot. Wer zuerst am Trog war, lebte länger, so lief es gewöhnlich. Es schnitt regelrecht in die Röhrenwände. Als wäre eine OP am wachen Leib in Gang. Er würgte. Schob sogar zwei Finger hinter den Gaumen, was den Würgreflex verstärkte. Er stieß auf, Magenflüssigkeit schoss hoch und ergoss sich auf den Tisch. Nicht viel, nur soviel, dass es roch. Er konnte nicht mehr, es zerriss ihn beinahe. Nur Augenblicke noch, dann war es vorbei, ab in die Gruft, mein lieber Konstantin. In Not war er, in tiefster Not. Er wählte 110. Bereits den Hörer am Ohr erinnerte er sich, dass er nachts, in einem Anfall von heiligem Zorn, das Kabel aus der Wand gerissen hatte. Er warf sich mit dem Rücken wuchtig gegen die Küchenwand. Sich selbst auf den Rücken klopfen konnte er ja schlecht. Keine Erlösung.
Er watete durch den Flur.  Durch Pfützen. Er watete durch Pfützen aus astreinem Blut. Die Hunde hatten nichts andres verdient als den Tod. Einen qualvollen Tod. Langsames Ausbluten et cetera. Er oder sie, die Lage hatte sich plötzlich, über Nacht, als ihn wieder die schlimmen Träume aufsuchten, zugespitzt. Sie wollten ihm an die Kehle. Diese Bestien. Doch er war schneller. Er dachte ja, die Hunde aber, Kreaturen nur, nicht. Er, das denkende Menschenvieh. Der Mensch von Belang. Alles hatte er im Leben gehabt, buchstäblich alles. In vollen Zügen. Keine Scham. Die Luft blieb aus. Blieb auf einen Schlag aus. Er wollte atmen, ging aber nicht. Wie kam das? Der Weg zur Eingangstür war weit, ein Stockwerk, die steile Marmortreppe hinab. Danach die zwei schwergängigen Glastüren. Nach der Eingangstür das weitläufige Grundstück. Bei welchem Nachbarn läuten? Er kannte keinen wirklich gut. Also schob er die Balkontür beiseite, gebeugt wie ein gebrochener Greis, der er niemals sein wollte. Nun ein halber Mensch nur.
Er stützte sich gegen die Brüstung. Die Wipfel tobten im Ostwind. Er blickte hoch zum vom Sternenstaub eingesauten Himmel.
Hilfe. So helft doch. Bitte.
Zum zweiten Mal in seinem Leben, diesmal in Gedanken bloß, bat er.

 

 

2 –

In den Katakomben hallte es. Als wäre der Jüngste Tag angebrochen oder was. Vor allem, wenn er alle Saiten auf einmal anschlug. Er fürchtete fast um die Fugen, die er gerade eben verspachtelt hatte. Nö, verfugt hatte er ordentlich, nur der Hall war halt dermaßen gewaltig, meine Fresse aber auch. Es war ein Kellergewölbe von 1865 oder was, das die Bonzen vom oberbayerischen See aufwändig restauriert hatten; unter Beachtung sämtlicher Auflagen des Denkmalschutzamtes natürlich. Die Kosten der Restaurierung der Katakomben explodierten, so dass die Gemeinde jetzt knapp bei Kasse war. Für einen Maurer wie ihn, von einer Zeitarbeitsfirma angeheuert, reichte es aber immer noch. Meine Fresse, laut wie sonst was. Es war nur ein transportabler Verstärker, ein besseres Kofferradio, den er für billig einem Säufer in den Tagen der Mission abgekauft hatte, aber er machte trotzdem mächtig Dampf. Die Gitarre, die er in den Verstärker eingestöpselt hatte, taugte im Prinzip genauso wenig, aber auch sie klang, so wie er sie spielte zumindest, als wäre da leibhaftig der Eddie van Halen am Werk. Die irre Version des Eddie eher. Was soll das Grinsen, glaubst es nicht? Eins in die Fresse, du Wichser? Nicht, dass der Eddie sein Vorbild wäre oder was, er fand Lemmy besser; der hatte schon mal nicht diese Fönfrisur; eine echte Rampensau war der Lemmy, eine Sau, die sich im harten Gehabe suhlte. Für nichts zu schade. Für nichts zu schräg. Hängte sich bei Auftritten das Eiserne Kreuz um, der Sack. Ein Ding direkt vom Adolf  am dreckigen Hals; Tatsache.  Wenn der Lemmy mit seiner Band loslegte, dann vergaß er sich und die Sorgen. Die Fugen, die hielten das schon aus. Er ackerte sich ab an den Griffen, seit Monaten, hatte sie aber immer noch nicht drauf. Vielleicht lag es doch an der Gitarre. Die hatte er vom Discounter; es gab da mal so eine Aktion und er war gerade bei Kasse. Er und die Gitarre. Ein Zufall? Nö. Fügung.  Der Hall hier machte ihn richtig an. Niemand konnte ihm was. Die Arbeit war schließlich getan. Er hatte die Ruhe weg. Was konnte ihm denn passieren? Es gab keine Fallhöhe. Er war schon unten. Unten zwar, doch mit einer kleinen Einsicht unterwegs, das wollte er noch auf die Schnelle loswerden. Er war ja dabei, als sie diesen Studenten aus Nigeria oder von wo angezündet haben. Dafür hat er aber gebüßt. Schlussstrich, meine Herren, fetter Schlussstrich. Oder passt was nicht, du Drecksack?
Er fuhr mit dem rauen Daumen über alle Saiten. Die Wände wackelten fast.
Da sah er die zwei. Ein paar Schritte vor ihm. Die Kinder. Ein Geschwisterpaar. Oder Freunde. Sag bloß. Die hielten richtig Händchen. Wie putzig. Die Augen groß, stumm vor der Gewalt der Gitarre. Er stand auf vom Hocker. Stellte sich breitbeinig hin. Öffnete den Zopf, so dass das Haar sein Gesicht vollkommen verdeckte. Er neigte den Oberköper nach vorne, schlug eine Art Akkord an, einen zweiten. Beide klangen sie abgrundtief dreckig. Ab da achtete er auf nichts mehr. Er schlug ununterbrochen an ohne aufzuschauen.

 

 

3 –

Zwei zu eins. Nicht zu glauben; Tränen ließen seine Augäpfel schwimmen. Sie haben sich doch noch, wenn auch in der Nachspielzeit, einmachen lassen. Die Überlegenheit, die sie sonst ausmachte, nicht im Ansatz gezeigt. Schlecht, alles schlecht. Nicht nur ihr eigenes Tor, auch die Gegentreffer haben sie im Prinzip selbst erzielt. Nach einem schnell ausgeführten Freistoß einen Pass komplett verschlafen. Und dann der abgefälschte Ball, vom Bein eines der Innenverteidiger. Eine Schande. Nicht nur für die auf dem Feld, gleich für die Nation. Er schlug sich mit der Faust auf die Stirn. Das ist gar nicht mal zu hoch gegriffen, gar nicht mal. Wer so ein Spiel verliert, der bringt Schande übers ganze Volk. Aus also fürs noch laufende Turnier. Da wirst du doch nicht mehr. Seinen Appetit hat er jedenfalls verloren. Er trat volley in die Luft. Es ist ihm vergangen, alles ist ihm vergangen. Sie waren doch fürs Siegen gemacht. Als aber der Linksaußen zum Strafraum vordrang, da sah man das Unglück kommen. Da waren sie hinten komplett unsortiert. Eine Mannschaft, die wie keine sonst für Disziplin stand, ein Hühnerhaufen nun. Null Ordnung. Er zerdrückte die Dose diesmal mit links. Diese Flaschen. Jeder von ihnen war schuld. Ohne Ausnahme. Die Zuordnung stimmte nicht. Nicht nur eine Niederlage, vor allem eine Demütigung ersten Grades. Die Welt war ab sofort ohne Hoffnung. Das Ende. Für ihn wenigstens. Dies war der Zeitpunkt, wo er Abschied nahm. Nie wieder Sport im Ersten; nie mehr sonstwo.

 

4 –

Der Schmerz kam gar nicht im Hirn an; so schnell lief es ab. Er wollte wenigstens minimal ausweichen, päng, da erwischte ihn der Laster schon. Das Fahrrad war Schrott und er nicht zu retten; das sprachen die Ärzte offen aus, vermutlich, weil sie dachten, er wäre durch Schmerzmittel komplett weggetreten. Das wußten zweifellos auch seine zwei Frauen, die jeden Tag zur Kaffeezeit an seinem Bett weinten. Ihre Tränen und ihre mitleidigen Worte machten ihm seinen Zustand endgültig klar.
Er war hin.
Kein Mitleid bitteschön für ein Arschloch wie ihn. Niemand kannte ihn gut genug. Nicht mal im Ansatz. Einen Dreck wussten sie alle. Er war im Arsch von Beginn an. Oft genug ist er geflüchtet, aus aussichtslosen Situationen; als die Barone aufliefen super spektakulär sogar. Doch jetzt half ihm nichts mehr. Der Tod, ein zuverlässiger Gleichmacher, hatte ihn fest in seinen rauen Griffeln. Eine Lebensbilanz musste her.
Leben? Vergiss es.
Nie hätte er das Rad nehmen sollen. Es sollte ein Spaß sein. Reine Nostalgie. Im Alter wird man in der Wahl der Nostalgiegeräte, die einen zurück in bessere Zeiten versetzen, mitunter etwas leichtsinnig. Ja. Der Tod täte ihm gut. Jedenfalls eine Pause vom Leben. Von all den Schandtaten auch. Nein, er schämte sich nicht. Auf Lügen war er gebaut, weil er es so wollte; niemand hatte ihn gezwungen, Menschen zu täuschen, zu verletzen, beiseite zu schaffen. Woher kam das ganze Geld, woher wohl? Niemals vermag Ehrlichkeit so viel Geld einzubringen, nie. Sein Los war nicht vorgezeichnet, niemals. Obacht mit der Vorsehung. Vorsehung war eine Ausrede der Schwächlinge. Von Leuten, die nicht ausreichend Spinat gegessen haben. Obwohl ja Spinat noch lange nicht über so viel Eisen verfügt, wie allgemein verbreitet wird.
Erbarme dich.
Setzte er etwa zu einem Gebet an? – Tränen schwärzten den zwei Damen die Wangen; das Kajal sorgte für handlichen Trauerflor. Die Damen taten ihm kein bisschen leid.  Sie hatten ab jetzt ihre Unabhängigkeit, und ein dickes Portemonnaie voll schmutzigen Geldes obendrein. Er war ja nicht kleinlich. Nie gewesen. Er folgte eben seiner eigenen Linie. Die – mit Hilfe seines alles plattmachenden Willens gezogen. So war es und Amen.
Was war? Es war aus.
Jetzt würde er die Augen schließen und sterben.
Also schloss er und starb.