Folge 1

 

Gehen Sie voran, sagte Malinowski. Es war keine Bitte, es war fast schon ein Befehl. Er drückte den Rücken gegen die Felswand.  Ich zwängte mich an ihm vorsichtig vorbei, vermied es aber mit aller Willenskraft, nach unten zu schauen, wo es  steil runter ging. Beim kurzen Körperkontakt zu dem uns die Enge des Ziegenpfades zwang, merkte ich, dass Malinowski, der seinen Bauch vergeblich einzuziehen versuchte, durch seinen Sakko hindurch, einen tiefblauen Zweireiher mit Goldknöpfen, den außer ihm heutzutage niemand mehr trug, ordentlich schwitzte. Es war nicht jene Sorte Schweiß, die zwar die Luft mit wahrnehmbaren Partikeln zu schwängern vermag, jedoch keinen bestimmten Geruch aufweist, vielmehr ein stechender, den Atem raubender Duft  gebündelter Fäulniskulturen,  tagelang gehortet , die nun endlich ungehindert ihre Wirkung entfalten dürfen. Es war, eindeutig genug, Angstschweiß. Seine Aktentasche presste er gegen die Brust.  Nachdem ich Malinowski passierte, atmete ich für ihn kaum hörbar durch, befühlte kurz den Felsen, der naß und kalt war, und setzte mich in Bewegung; behutsam einen Fuß vor den anderen setzend. Hinter mir hörte ich ihn unregelmäßig schnaufen; er folgte also.  Es dämmerte schon der Abend, jegliche Konturen verwischten allmählich, so dass ich Malinowskis Bedenken, sogar seinen Angstzustand nachvollziehen konnte. Zudem war er stark kurzsichtig, seine Brillengläser schienen mir beinahe so dick wie die ordentliche Scheibe Leberkäs, die er vor Stunden in der Hütte überaus konzentriert verdrückt hatte. Bei allem Verständnis für ihn sowie seinen Moment der Schwäche, hatte ich Malinowski ganz und gar nicht gern in meinem Rücken, schließlich, bei unserer Vorgeschichte nachvollziehbar,  traute ich ihm nicht. Mit der fortschreitenden Dämmerung wurde die Stille zunehmend kompletter, nur das Schnaufen hinter mir schnitt in sie. Die Sonne, durch schmutzige Wolken um ihre Vollständigkeit gebracht, brannte aus hinter der nächsten Bergkette. Wir befanden uns in alpinen Höhen. Der Ziegenpfand hörte nicht auf, aber weit dürfte es nicht mehr sein. Fast hätte ich aufgelacht. In der Hütte hatten sie uns angeschaut, als kämen wir von einer anderen Galaxie.  Ihnen allen nicht nur durch Anzug und Budapester, sondern grundsätzlich wesensfremd.  Neugier trieb sie allerdings zu uns. Sie alle schauten wie gebannt, ohne einen Anflug von Scham. Die Sennerin, die uns bedient hatte. Deren debiler, halbwüchsiger Sohn. Durch die Küchentür lugte derweil – nicht mal kurz –  eine mißratene Menschenfresse. Wie wahr, wie kamen aus einer Galaxie, die ferner lag als die Vorstellungskraft der Hüttenbewohner je reichen konnte. Für Geld taten wir Dinge, die sich vollständig jenseits ihrer Gedankenwelt befanden.  Aufzulachen verkniff ich mir dennoch. Nicht unbedingt der Stille wegen oder des Echos, nicht unbedingt deshalb. Wie weit noch, fragte ich statt dessen, im Gehen und nur geringfügig den Kopf wendend, um keinen falschen Schritt zu setzen. Malinowski schwieg. Er war wortkarg, schon immer. Um ihn aus sich herauszulocken, brauchte man mittelschweres Gerät. Wo das zu beschaffen war, davon hatte ich derzeit keine Ahnung. Gut. Beim Essen, offenbar seinem einzigen Hobby, sprach Malinowski, den ich lediglich mit dem Nachnamen kannte, bisweilen an die zwei Sätze. Das ist gut durch. Könnte noch einen Knödel vertragen. Immer in dieser reduzierten Art. Nach Alkoholgenuß, obwohl man  seiner Herkunft nach darauf hätte wetten können, sagte er hingegen gar nichts. Mir war er fremd. Wir stapften voran im Dämmerlicht.  Der Ziegenpfad führte nun weg vom Abgrund, in die Landschaft hinein, auf ein schwach bewachsenes Felsenplateau geringen Ausmasses. Um uns lauter Berge. Der Sonne letzte Strahlen zerbrachen an deren schneebedeckten Flanken mit breitem Lichtspektrum. An sich ja ein schönes Naturerlebnis, wenn nicht–  Da sah ich den Verschlag. Zehn, zwölf Meter weit entfernt. Bloß ein paar alte Bretter, kaum mannshoch, nicht mal gekonnt gezimmert. Statt Tür ein Eingangsloch. Ich stürzte vor und  zwängte mich, den Kopf einziehend, rein. Noch war es ausreichend hell, um zu erkennen. Eine befleckte Matratze zu erkennen, aus der das Innenfutter – Schaumstoff minderer Qualität – herausquoll.  Eine Matratze, die sich auf barem Felsgrund breit machte.  Hinter mir ein langgezogenes Schnaufgeräusch, und schon stolperte Malinowski in den Verschlag herein.  Die Matratze  lag zwei Fußbreit von der Holzwand entfernt, so dass ich nun, um Platz für uns beide bemüht und halb gebückt, gegen die Wand lehnte. Wir schauten uns gegenseitig an, Malinowski gebückter noch als ich, und nickten uns ohne Eile zu. Ja. Wir waren angekommen.

Fortsetzung folgt.
Ende August wahrscheinlich.

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