Archie Shepp

Es gibt nur noch wenige prägende Figuren aus der ersten Generation der Freejazzer, die noch atmen. Das komplette Ornette Coleman Quintet der Endfünfziger ist dahin. Das klassische John Coltrane Quartet ist nur noch in Gestalt von McCoy Tyner am Leben, der in diesem Jahr 80 wird. Sunny Murray und Roswell Rudd sind im Dezember 17 verstorben. Cecil Taylor wird bald 89, wenn denn…  Pharoah Sanders, der für manch einen nicht zur ersten Generation zählen mag, ist 77, Muhal Richard Abrams 87. Milford Graves, der zugegeben etwas später dazu kam,  lebt mit 76 noch und scheint vital. Wie auch Archie Shepp, der Tenorsaxophonist. Der ist vergangenes Jahr 80 Jahre alt geworden und tritt immer noch da und dort auf.  Shepp war in der Hochzeit der Bürgerrechtsbewegung der Sechzigerjahre ein wichtiger Lautsprecher der Schwarzen in den USA.  Er, ein Student der Literaturwissenschaften, konnte gehaltvoll reden und schreiben, vozugsweise über Malcolm X und das Recht, dem Unrecht mit allen Mitteln zu begegnen. Während John Coltrane, der Shepp am eindrücklichsten protegierte,  sich in seiner Musik eher dem Jenseits zuwandte, politisierte Shepp die Jazzszene unentwegt; im Verbund mit dem seit 2014 totem, recht radikalen Dichter Amiri Baraka, gebürtig: LeRoi Jones.  Erst in seinen späteren Jahren, ab Mitte der Siebzigerjahre etwa, wurde Shepp altersmilde, wandte sich unverblümt noch mehr als sonst dem Blues zu und offenbarte vollends seine romantische Ader. „Coral Rock“ von 1970 ist keineswegs seine beste Aufnahme, doch gibt sie schön Auskunft über Shepp, über dessen Stärken wie Schwächen – und dazu noch über die Haltung der maßgeblichen Jazzer damals. Zunächst das Offensichtliche dieser Platte, als da ist:  der Aufnahmeort. Paris. Von wo das zuständige Label America operierte. Paris war seit den 20er/30er Jahren der vornehmliche Zufluchtsort für US-Jazzmusiker afroamerikanischer Herkunft, denen Anerkennung sowohl als Mensch wie auch als Musiker daheim versagt blieb. In Paris ging es ihnen zumeist gut, man konnte gar von Musik leben. Die Liner notes zu „Coral Rock“, kurz und doch im Impetus aussagekräftig, schrieb die britische Journalistin Valerie Wilmer – ja, ein echte Frau, deren Herz selbst mit inzwischen 76 Jahren für frei gestalteten Jazz schlägt  – , die vor allem durch ihr äußerst empfehlenswertes Buch „As Serious as Your Life: The Story of the New Jazz – John Coltrane and beyond“ von 1977 bekannt wurde. Die Aufnahme verfügt zudem über ein feines Cover, was nicht unbedingt auf alle Shepp-Platten zutrifft. Es ist eine gemalte Nahaufnahme von Shepps Gesicht, die dessen  Wurzeln  – in Form der bunten Kappe, aber auch anhand der Gesichtskonturen – in Stolz ausstellt. Das Line-up für die Session, ohne Ausnahme schwarz, ist beeindruckend; was freilich oft genug keine tiefgehende Unterhaltung garantiert, diesmal aber schon. Es sind dabei: Bobby Few, lebend und heute 82, Bob Reid, Mohamed Ali, Al Shorter, Joseph Jarman, 80 Jahre alt derzeit. (Drei der Akteure leben noch – Few ist 82, Jarman 80 und Ali 81 Jahre alt.) Dazu noch ein wenig bekannter Congaspierer sowie ein Perkussionist; denn nach Perkussion und Congas verlangte die Zeit damals. Die Zeit damals verlangte ferner zu gern nach politischen Statements, die von den beteiligten Schwarzen aus nach Afrika wiesen, was sich z.B. im Überschuß an Rhythmus bemerkbar machte. Die Zeit verlangte zusätzlich noch nach ellenlangen und bisweilen ermüdenden Stücken, die bestenfalls zu einem Trancezustand führten. Dies war nicht dringend ein Zugeständnis ans psychedelische Element in der damaligen Popmusik, aber in so manchem Fall konnte es das sein. Bei „Coral Rock“  – auf der Plattenhülle sind die zwei Worte einmal mit einem Bindestrich verbunden, ein anderes Mal nicht; ? – fallen ganze zwei Stücke ab, die je eine Seite der ursprünglichen LP füllen.  Beim Titelstück, bei welchem Al Shorter als Komponist geführt wird, obwohl es ad hoc hergestellt scheint, wird über ein Rhythmusgerüst eine bisweilen furiose Improvisation hingeschmiert.  Obendrei kommen packende Soli der anwesenden, kämpferisch gestimmten Free-Kameraden, die sich in anderen Konstellationen bereits zuvor begegnet sind, d.h. sich gut verstehen und folglich prima harmonieren. Auch weil die Produktion keine High End-Ansprüche erfüllen möchte/kann, gibt es hier geballte raue Kraft zu besichtigen und eine Wut über die miserablen Zustände weltweit hinein zu interpretieren. Die zweite Plattenseite gerät gänzlich anders. Shepp, der dies gelegentlich schon mal tat, sitzt diesmal am Klavier, von wo aus er zunächt im Trio mit Bass und Schlagzeug „I Should Care“ von dem weißen Tin Pan Alley-Musicalschreiber Jimmy Von Heusen – gebürtig: Edward Chester Babcock; Komponist von:  „Polka Dots and Moonbeams“ und „Darn That Dream“ – über eine exzentrisch lange, doch in der Exzentrik reizvolle Strecke einleitet. Die Bandbreite von Shepps Klavierspiel ist übersichtlich, aber auch hierbei in der Gradlinigkeit nicht gänzlich ohne Reiz. Hier kommt das Statement zur Weltlage vermutlich aus dem Titel heraus– wir sind unter anderen inmitten  von Entkolonisierung. Die Aufnahme faßt den Künstler Archie Shepp also in zwei Stücken von insgesamt 35 Minuten Dauer zusammen; als einen Zerrissenen zwischen Anspruch und gut gemachter, melodieseliger (vermeindlicher?) Banalität.  So eine Zerrissenheit kann Kreativität freisetzen, und das nicht nur bei einem wie Shepp. Wenn sie sich nämlich gleichermassen kunstvoll und schnörkellos mitteilt wie hier, dann auch bei Hörerin und Hörer gleich welcher Prägung.