Uma

(Um mir den kommenden Blog zu sparen, doch gerade noch rechtzeitig vor Nikolaus, der Anfang einer Geschichte, die ich vor vielen, vielen, vielen Jahren geschrieben habe und die keins der Kinder vorgelesen haben oder selbst lesen wollte. Die komplette Geschichte gibt es auf dieser Seite in der mager bestückten Geschichten-Rubrik. – Die Formatierung ist hin, ich weiß. Kann aber im Augenblick nichts gegen sie ausrichten.)

Uma steigt ein – und aus

– Steig ein, sagte Mama, und Uma stieg ein. Die Mama rief noch: – Und grüß mir den Papa, mein Mädchen. Vom Eingang aus winkte Uma der Mama, dann schloss die Zugtür schon. Uma rieb sich die feuchte Stelle auf ihrer Wange ab, die Mamas Kuss hinterlassen hatte, und rollte ihren Koffer vor zu ihrem Platz. Wagen 511, Sitz Nummer 51, eine Eins machte da den Unterschied nur. Fünfhundertelf minus 51, was ergibt das? Wie viel noch? Sie rechnete im Gang mit den Fingern. Weniger als Fünfhundert, das auf jeden Fall, aber … Da drückte von hinten jemand gegen sie. Dermaßen gewaltig, dass sie fast umfiel. Gerade so noch konnte sie sich festhalten. Am Haar einer Frau im Sitz daneben. Uma flüsterte: – Entschuldigung. Die Frau schaute nicht mal hoch zu ihr. Von hinten hörte Uma stattdessen eine Männerstimme voll Ungeduld sagen: – Los, los Kleine, aus dem Weg jetzt. Uma machte sich dünn. Ein dicker Mann fast ohne Kopfhaar, der eine schwere Sporttasche über der Schulter trug, zwängte sich an ihr vorbei. Kein Haar auf dem Kopf, dafür wucherten seine Brauen üppig und auch aus der Nase sprossen ihm schwarze Härchen. Uma sandte dem Mann einen stummen Fluch hinterher: Des Belzebub Fluch sei mit dir, du bist kein Mensch, du bist ein Tier. Nicht dass der Fluch jemals gewirkt hätte, aber er besserte Umas Laune. An ihrem Platz angekommen, öffnete Uma mit einem geübten Ruck den Reißverschluss des karierten Koffers, den ihr die Mama vor zwei, drei, nein, gar nicht wahr, vor vier Jahren vom Kongress der Physiker in Glasgow mitgebracht hatte. Sie klappte den Deckel auf. Den im Batteriefach rostigen CD-Spieler, den ihr Vater auf einem Flohmarkt aufgetrieben hatte, nahm sie heraus – sowie eine Brotzeitdose, die Vollkornsemmeln in der Tüte, das Taschenmesser, die Schachtel mit den Feen aus Filz. Sie steckte all das in das Netz, das unten an der Rückenlehne des Sitzes vor ihr angebracht war. Eine Weile wühlte sie noch im Koffer. Wo waren denn zum Teufel noch mal die Plüschkatze und das wollene Haflinger-Fohlen, das ihr Onkel Egon, der Förster vom Silberwald, geschenkt hatte? Hier im Koffer waren sie jedenfalls nicht. Sie hielt die Tränen zurück, klappte den Deckel zu, schloss den Verschluss. Der Mensch war nicht perfekt. Nie gewesen. Sonst wäre er nämlich schneller als das Gepardmännchen. Und besser gekleidet als der Ara. Und netter anzuschauen als jedes Reh. Und kräftiger als eine Ameise. Sie versuchte ihren Koffer in die Ablage zu heben, schaffte es aber bis zu den Kleiderhaken nur, die Kräfte verließen sie dann, der Koffer fiel runter – auf die leeren Sitze gottlob. Sie schaute sich um. Passagiere. Mitreisende. Leute. Jedes der Gesichter erzählte ein Leben. Stand so in einem Buch, das sie in den Ferien gelesen hatte. Dieses Leben konnte gelungen sein oder nicht. Ein Passagier konnte ein Kotzbrocken sein, der andere ein gescheiterter Zauberer, wieder ein anderer ein astreiner Engel. Sie fragte schließlich einen alten Mann, der in der Reihe neben ihr eine Zeitung las. Dass er alt war, erkannte sie, weil er eine Zeitung fast ohne Bilder las. – Helfen Sie mir bitte?, fragte Uma. Die Frage geriet ihr zwar leise, aber verständlich.

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