Ja oder nein oder dazwischen? Leben wie der Miles.

Beim Übersetzen von Tomasz Stankos Biografie „Desperado“, die der befreundete Mäzen Reinhard H. aus der Hansestadt Hamburg, wo viele Pfeffersäcke daheim sind aber dann doch auch einige Freigeister, grosszügigerweise finanziell unterstützt, fiel mir auf, wie radikal Stanko, der Jazztrompeter, die Improvisationskunst auf das Leben anwendet.  Das Leben gehört improvisiert, sagt er mehr oder weniger durchgängig.  In die Improvisation aber, und somit ins Leben, gehören unbedingt Fehler hinein, denn erst sie öffen neue Sichtweisen, weisen neue Sichten usw.  Stanko sagt mitunter einleuchtende Dinge wie: „Kreativität kommt von Fehlern“ , „Es geht um die Frische, die aus der Überraschung über einen Fehler resultiert.“ Er holt sogar derlei aus: „Ich weiß noch, was Hancock über das Zusammenspiel mit Miles (Davis, A.d.Ü.) gesagt hat. Er erinnerte sich, wie Miles einmal eine komplett falsche Note reingehauen hat. Und seinen Fehler aushielt. Und ihn sogar noch verstärkte. Die Musik holte die Note wieder ein. Um diese seltsame Note herum entstand eine Art  Wirrwarr. Und das Ganze riss sowas von aus! Etwas geschah mit der Ausdruckskraft und der Spannung! Es brodelte unglaublich. Darauf basieren die Entdeckungen der Improvisation. Das, was Miles da spielte, das waren Fehler, nur akzeptierte Fehler. Die Charakterstärke und der Glaube an sich selbst richteten es ein, dass Miles so instinktiv reagierte. Er bog nichts weg oder versuchte es zu reparieren. Er hiiiiielt es aus! Und das Leben holte den Fehler ein! Und begründete ihn. Es tauchte ein Ding auf, das es ohne Fehler nicht gegeben hätte. Es gibt solcherlei Aufnahmen. Wo die Ausdruckskraft sich auswächst. Wo das Ganze sich in magischer Weise wandelt, nicht mehr flach und genau erscheint. Erst dank der Kopierfehler in der DNA gibt es ja uns, Menschen.“ Das Buch ist ein überlanges Interview; wirklich lang, weil in der polnischen Originalausgabe über 500 Seiten, und wenn der Musikjournalist Rafal Ksiezyk Stanko fragt: „Kann man Improvisation bei den großen Existenzfragen anwenden?“, dann sagt Stanko tatsächlich: „Es hilft. Seit langem schon gibt es kein ,Ja‘ und kein ,Nein‘. Alles ist dazwischen. ,Ja‘ und ,nein‘, das wäre zu einfach. Und es ist nie einfach.“ Improvisation als Grundlage fürs Verrichten des Alltags. Nie ist was schwarz oder weiß, vielmehr  alles grau; grau in allen unmöglichen Schattierungen auch noch. Den Fehlern die Existenz erlauben, gar Stärke beimessen. Meine Rede, mit ein paar Einschränkungen, seit immer.  Man sollte zeitlebens auf den Zufall vertrauen, sosehr man auch ein Kismetfan sein mag; der Zufall, der lenkt einen zuverlässig zur Überraschung hin, die dem Leben – ebenso zuverlässig –  Elan verleiht.  So einen Einstellung ist selbstverständlich besser zu handhaben, wenn man, wie Stanko,  gutes Geld mit improvisierter Musik verdient. Unser Alltag lässt nicht immer fruchtbare Improvisation, Fehler oder Zufall zu. Wie sieht es aus, wenn man, nur als Beispiel, den Stoff für ein Sofa aussuchen muß? Da hält man sich besser vom Zufall und Fehlern fern. Da gewinnt die Ratio die Oberhand. Muß sie. Weil es recht teuer sein kann, ein Sofa beziehen zu lassen. Der Stoff allein. Selbst wenn es nur drei Meter sein sollten und möglichst viel Naturfaser beinhalten – das können gut 100 Euro oder weit drüber für den Meter sein. Innenausstatter sind ein seltsames Volk, das von Miles wahrscheinlich nie was gehört hat. Nicht mal Kind of Blue.  Die Stoffausschnitte stecken in  smoothen Heftern, aus denen man bis in die Entscheidungslosigkeit hinein blättern könnte, die Kundschaft in adretter Stifelette und nagelneuem Polsterjäckchen.  Hier gehen Ordnung und Oberfläche vor. Hier gibt es alles nach Maß. Was nicht paßt, wird fürs Wohnzimmerdesign passend gemacht. Was jetzt? Nichts dem Zufall überlassen? Alles dem Zufall überlassen? Den Fehler um die Ecke bringen? Den Fehler improvisieren? Probieren Sie doch alles der Reihe nach aus und  berichten Sie nach Möglichkeit ausführlich. Das Kommentarfenster unten ist auf.

(„Desperado“ wird, so wie es gegenwärtig ausschaut, denn der Wille und ein interessierter Verlag sind da, von mir ins Deutsche übertragen werden und in Buchform schon 2018 oder erst 2019 erscheinen – sobald die zusätzliche finanzielle Unterstützung für die Übersetzung seitens des Polnischen Buchinstituts steht und die Druckkosten,  eine doch alberne Summe von ca. 4000 Euro, von irgendeiner spendablen Seite übernommen werden können.  Sollte jede Unterstützung scheitern, kommt es zu einem Fundraising. Das Buch wird auf alle Fälle veröffentlicht. Und zwar deshalb, weil es ein gutes Buch ist.)

Eine Antwort auf „Ja oder nein oder dazwischen? Leben wie der Miles.“

  1. über die kopierfehler der DNA muss man nicht glücklich sein ……
    das ist nicht mit einem quietscher aus coleman hawkins spät-
    phase zu verwechseln.
    fehler aber sind ja nichts anderes, als ein kurzer wachschubser,
    auf das wir menschen nicht in selbstgefälligkeit – und zufrieden-
    heit versacken.
    und sie schaffen nicht nur in konzerten sondern auch in ton-
    artefakten etwas entscheidendes: atmosphäre – deswegen
    hören wir auch so gerne live-aufnahmen oder die forcierten
    statements von miles davis ´ columbia aufnahmen.
    außerdem bewirken fehler eine aktivierung anderer sinne,
    wenn cannonball adderley auf „live in new york“ sagt:
    „lights out for atmosphere“ ! so zwingt uns dieses statement
    auch visuell in diese aufnahme.

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