Tomasz Stanko ist tot. Mit 76. Ein Trompeter von weit hallendem Ruf. Dass ihm gerade die Lunge aussetzte, das hat nichts mit Ironie des Schicksals zu tun; das verbietet sich in diesem Zusammenhang zu sagen; verbietet sich grundsätzlich fast, wenn der Tod im Spiel ist. Es ist nur bitter und Punkt. Stanko war ohnehin ein schmal gebauter Mann, mit dessen Lungenvolumen es, auf den ersten Blick, nicht weit her war. Auf den ersten Blick aber eben nur. Wenn er Trompete blies, eröffnete er ganze Welten fernab gewöhnlicher Vorstellungskraft. Kontrastreich, ungefähr so melancholisch wie – nahezu gleichzeitig; dies: seine Kunst – durch und durch dreckig. Als einer der Handvoll hatte er sich die Jahrzehnte über einen vollkommen eigenen Sound zugelegt, der im Prinzip, das war sein Wunder, mit dem ersten Ton schon erkennbar war. Er war der überragende polnische Jazzman. Überragender noch als sein Förderer von einst, als Krzysztof Komeda, dessen kurzes Wirken in Polen bis heute unvermindert stark nachklingt. Als Bandleader wußte Stanko, was er von seinen Mitmusikern wollte – und forderte es eindringlich ein. Verlangte also von sich was – und von anderen dann auch; und zwar nicht ein bisschen weniger. Er war, wie das oft bei den Jazzmen vorkommt, ohne offensichtliche Allüren. Das habe ich aus erster Hand. Als ich ihn 2013 im New Yorker Rubin Museum of Art nach einem Konzert von Marilyn Crispell und Gary Peacock ansprach, mich kurz vorstellte und erwähnte, dass ich seine drei Jahre zuvor erschienene Biografie „Desperado“ vom Polnischen ins Deutsche zu übersetzen vorhabe, lud er mich ohne große Vorreden für den nächsten Tag bei sich zum Grüntee ein. Er hatte ja parallel zu Warschau auch eine Wohnung in New York, weil er die Stadt nicht nur der in sie eingeschriebenen Jazzgeschichte wegen liebte. Nicht nur deswegen. Denn genauso wie er fleißig Jazzclubs besuchte, stellte er sich vor seinen Modigliani im Metropolitan Museum of Art auf oder schaute sich eine Oper in der Met an. Für die drei Mangos, die ich ihm schließlich an die Ecke der Amsterdam Avenue, auf der Höhe der Mitte vom Central Park schon, brachte, dankte er höflich, meinte aber, er könne sie nicht essen, da er sich makrobiotisch ernähre. Ich verstand. Er hatte ein Desperado-Leben geführt, mit viel Drogenkonsum, schonte sich kaum: doch offenbar jetzt radikaler denn je. Als Gastgeber war er überaus aufmerksam, hörte zu, erwiderte pointiert und humorvoll. Er schwärmte gerade von seinem eben erst gegründeten New York Quartet. Lauter deutlich jüngere Musiker, die ihm, da war er der folgsame Schüler des Miles Davis, Feuer unterm Hintern machten, so dass er vor Spielfreude fast barst. Als ich diese vorgepriesene Band Wochen später sah, war ich wenig begeietert, obwohl alles an seinem Platz schien, die Kompositionen verschachtelt genug, die Einzelstimmen gekonnt dargelegt, er selbst mit festem Ton. Wie anders dann beinahe ein Jahr später dieselbe Band, die offenbar zusammen gewachsen war, sich eingespielt hat. Dynamisch, kraftvoll, frei & bereit zu jeder Schandtat. Nicht wieder zu erkennen. Noch beim Grüntee erzählte ich ihm vom Vision Festival, das gerade in jenem heißen Juni im Gang war, händigte ihm das Programm aus. Er erschien auch prompt am Folgetag; ein mir unbekannter Exilpole in seinem Schlepptau. Er kam energiegeladen wie offensichtlich stets ins theatergleiche Brooklyner, sagen wir mal: „Artists’ Space“ namens Roulette, setzte sich ein wenig abseits im Parkett und schaute Kris Davis, Andrew Cyrille und Eric Revis bei der Interaktion auf der Bühne zu. Nach diesem einen Bandauftritt stand er auf und verabschiedete sich mit den Worten „Ich habe genug. Toll. Großartige Musiker. Besser geht es nicht. Mehr brauche ich auch nicht.“ Er war nach einem Festivalpunkt erfüllt und ohne Neid und wie geölter Blitz auf dem Weg nach Hause. Zwei Jahre davor ist er selbst bei Vision zu Gast gewesen. Ein Höhepunkt des damaligen Festivals, obwohl ich mir von der Konstellation mit Mark Feldman, Sylvie Courvoisier und Mark Helias nicht viel versprach. Welch eine Überraschung dann. Das Zusammenspiel war konzentriert und komplett dicht und man merkte, was im Jazz und dessen Verwandtschaft vor allem zählt: das bedingungslose einander Zuhören – und die adäquate Reaktion darauf selbstverständlich ebenso. Spätestens ab da war für mich klar: Stanko paßte in jeden beliebigen Kontext. Eine Jahrzehnte lange Erfahrung nahm ihm alle denkbaren Vorbehalte vor unbekannten Gegenden und verlieh jedem seiner Ensembles Stabilität. Er konnte immer. Und mit jedem.
Ein Nachruf also doch. War keine Absicht. Wuchst sich im Laufe des Schreibens aus. Es ist halt sehr traurig, wenn einer verschwindet, der prägend war. „Desperado“ geht bis ins Jahr 2010, nicht weiter. Dabei machte Stanko bis zuletzt Musik von Belang. Das Buch wird garantiert auf Deutsch erscheinen. Die Verhandlungen sind weit, die Vorzeichen inzwischen gut. Doch werde ich Tomasz Stanko, das war an sich die Absicht, nicht mehr zu den Jahren danach befragen können, um seine Memoiren aktuell zu halten. Ihm Fragen zu stellen und kluge Antworten zu bekommen, darauf habe ich mich gefreut. Der Tod kommt leider immer zur Unzeit.
Schön, dass Du ihm diesen Nachruf gewidmet hast. Höre gerade Balladyna, diese Zeilen schreibend. Ein Großer des Jazz ist gegangen.