Der Veteran schnappt

New York kann tödlich sein und lebensrettend – das unter seinen zahlreichen Spannungsfeldern ungefähr seine reizvollste, weil radikalste Zweischneidigkeit. Man muss also auf der Hut sein. Den Hut aufhaben, einen  tellergroßen, aus Stroh, der waghalsig auf der Schädelkante sitzt, geht auch.  Schützt aber vor der Sonne nur. Die ja ab dem Memorial Day vor einer Woche, dem offiziellen Sommeranfang in der Stadt der Städte, recht zuverlässig scheint. Und die eine ziemlich unbarmherzige Hitze produziert, die, auch wieder zweischneidig, einerseits äußerst komprimiert und trocken ausfällt, andererseits das Versprechen der Linderung seitens der latenten Atlantikbriese mit sich bringt. Neben der BAM (Brooklyn Academy of Music) auf den breitgezogenen Treppenstufen zu sitzen, ein vegetarisches Burrito von Cesar’s Truck nebenan, der unweit von 9 bis 9 parkt, in der europäisch-designten Pfote, ist nicht unbedingt eine glorreiche Idee, denn die Hitze frisst einen schier auf. Man kann es aber machen, etwa des massiven Verkehrsaufkommens wegen, das an der Gabelung Flatbush Ave und Lafayette Ave  die Luft zu zerreißen droht und wo man braungebrannte Oberkörper in kaum verkehrstauglichen Vehikeln und ohne Helm beobachten kann, die zu überirdisch lauter Musik derlei Gas geben, dass einem der Burrito doppelt gut schmeckt. Alles scheint hier möglich und wenn man gerade denkt, das aber sei nun der Gipfel der Unmöglichkeiten, hoppala, passiert geradewegs um die Ecke Unmöglicheres, Niedagewesenes,  vom Grundrecht her Sträfliches bzw. von demokratischen Verfassungen quasi um den Globus Verbotenes, Gotteslästerliches, mehr Jen- denn Diesseitiges. New York, New York – hierbei sich bitte nicht den Frank Sinatra, der den so betitelten Gassenhauer auch mal sang, sondern einen drohend entblößten und à la Metronom ausschlagenden Zeigefinger dazu denken. Aber diese Stadt zu bestrafen schafft ohnehin keiner.  Sie bestraft sich selber durch die bedingungslose Kommerzlust plus Innovation um jeden Preis oder aber sie kommt ungestraft davon. Wir sind jedenfalls New York nicht böse, sondern danken erneut für die Visionen des diesjährigen Vision Festivals. Danken für Dave Burrell, jenen Pianisten, der zu der zweiten Welle der Freejazzer gehört, auf die 80 zugeht, aber seine Verweise auf die Jazzvergangenheit, namentlich Stride, Regtime & Jelly Roll Morton, solchermaßen gegen zu Clustern verdichtete Moderne gegeneinander fahren lässt, dass sich die Luft im Roulette-Theater an der Atlantic Avenue kreativ verdichtet; möglicherweise nicht unähnlich wie an der BAM, circa fünf Gehminuten von hier entfernt. Burrell ist ein studierter Mann, der im Interview reine Freundlichkeit austeilt, durchformuliert aus seinem Leben auf Hawaii, der Schulzeit am Konservatorium in Boston, seiner Zuneigung zur Oper sowie von der Loftszene downtown erzählt, und zwar so uneilig und kompakt, dass man kein Wort missen möchte. Diese Art der durchdachten Verinnerlichung  geht womöglich bald verloren, mag man denken; diese Leute, die das Wilde mit dem – ja – Milden zu vereinigen imstande sind, sterben aus.  Leute auch wie Archie Shepp, der am ersten Festivalabend mit Burrell auf der Bühne stand und seinen zerkauten Ton auf dem Tenorsaxophon noch zerkauter von sich gab; eine hoch individuelle Diktion war das, die man sich gern als seriös-politisches Manifest gleich den Shepp-Manifesten aus den Sechzigern denken durfte, obwohl man anmerken muss, dass Shepp, der am Tag nach seinem Auftritt 81 Jahre alt wurde, ein wenig der Atem fehlte. Die Puste, und zwar gut sichtbar, ging auch Kidd Jordan (83) aus, als ihn der 35jährige James Brandon Lewis, der Statur und fast auch dem Volumen nach  ein topfitter John Coltrane,  von Tenor- zu Tenorsaxophon herausforderte, immer wieder Feuer entfachte, so dass es schien, Jordan kollabiere sogleich auf offener Szene.  Tat er gottlob nicht, stützte sich nur ab und schnappte nach Luftbrocken. So ist das dann mit der glorreichen Vergangenheit wahrscheinlich: sie schnappt, muß sich zwischendurch ausruhen, gibt aber immer noch was von Belang von sich.  Sogar dem schmal geschnittenen,  fragil wirkenden Jameel Moondoc am Altsaxophon – lediglich 66 und aus der dritten Welle der Freejazzer stammend, dem Gründer der vorwärts gerichteten Formation Muntu, musste die Rhythmusgruppe einheizen, damit er aus sich fand; allerdings die feinste Rhythmusgruppe, die man sich gegenwärtig denken kann: William Parker am Bass und Hamid Drake am Schlagzeug. Dieses Trio geriet so sehr in Fluß, dass Moondoc, in unverhohlener Bewunderung des Rhythmusduos, zu tanzen begann. Noch ist also ein bißchen Tanz und Luft drin, doch wie sieht es 2019 aus? Veteranen, die alles gesehen und gehört haben und wohl auf alle musikalischen Überraschungen adäquat & unüberrascht zu reagieren fähig sind, geben sich zunehmend wackeliger, während der Nachwuchs, den es zumindest in der sog. Jazzkapitale reichlich gibt, eher in Sparten und Spielarten denkt, schneller als früher, durch Zwang mitunter, auf eine individuelle Stimme beharrt, die freilich nicht immer behagen muss. Dies sollte keineswegs ein nostalgisches Stück Text sein. Den Tod hat schließlich jeder vor Augen und Brust, alt wie jung. Ein wenig traurig darf es dennoch stimmen, dass selbst im  vitalen New York City Leben zu Ende gehen. Leben, die mit ihrer Musik und ihrer Haltung so lange andere Existenzen stark & mutig gemacht haben.

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