Der Mensch kennt keine Schranken. Sein Limit ist einzig der Tod. So kann er zum Beispiel ungehindert, nur um beim Lieblingsthema Musik zu bleiben, einen Granatenwerfer mit Herbert Grönemeyer, Lieschen Müller mit Weißbrot oder André Rieu mit Igor Levit vergleichen. Die beiden Letztgenannten traten zufällig oder nicht am vergangenen Wochenende in München auf. Nun könnte man fragen: Was haben die beiden Herren denn schon gemein? Abgesehen davon, dass sie Musik beziehungsweise Musikfernverwandtes machen, auf den ersten Blick: gar nichts. Auf den zweiten Blick sieht das schon anders aus. Auf den zweiten Blick haben Rieu und Levit ganz und gar nichts miteinander gemein. Immerhin zeigen sich bei diesem Vergleich unverhohlen zwei denkbar disparate Lesarten dafür, was Musik im Wesen ausmacht. Sie ist ja wesentlich, Notation hin oder her, die Fassbarkeit von Instrument oder Stimmband her oder hin, unfassbar. Ihre Wirkung sowieso. Man schiebt die Musik zu gern in Gottesnähe, zu den Glaubensfragen hin, weil man als Mensch trotz Ohr und innerlicher Vibration ratlos ist. Eine als Blog getarnte musikwissenschaftlich angelegte Studie, stop, da fällt mir ein, der Free Jazz-Schlagzeuger Milford Graves, derzeit auf dem Cover der Musikzeitschrift WIRE, mißt seit Mitte der 1970er Herzfrequenzen und legt sie dem musikererzeugten Rhythmus nahe und meint, Musik sei dem menschlichen Organismus von vornherein implantiert, ist sowieso von der Heilkraft der Musik überzeugt, auf alle Fälle: eine solche Studie könnte da helfen. Doch dafür: kein Platz hier. Für Häme & böses Blut allerdings schon. So. Zum Gegenstand jetzt. Rieu beshowmante die optimal sterile Olympiahalle, Levit setzte sich ein paar Stunden später im aristokraten, mit Pfauen besprenkelten, bourgeois-neoantiken Prinzregententheater an den Flügel (Steinway & Sons). Während bei Rieu garantiert sowohl Granatenwerfer als auch Lieschen Müller zugegen waren, ich aber nicht, spielte Levit die fünf Beethovensonaten (Nr. 24 Fis-Dur Op.78, Nr. 4 Es-Dur Op.7, Nr. 9 E-Dur Op.14 Nr.1, Nr. 10 G-Dur, Op.14 Nr., Nr. 26 Es-Dur Op. 81a) in der Matinee für den erhabenen Bildungsbürger wie mich; könnte man zumindest vorerst meinen. Während Rieu, dieses, es wird jetzt hämisch, muß unbedingt hämisch werden, auf Effizienz konfektionierte niederländische Glashauserzeugnis mit der fidelen Fidel nicht echt sein kann, so gut gelaunt und schunkelwild wie er daherkommt; dieser unverschämte Potpourrist muß, muß, muß eine übezeichnete Trickfilmfigur sein, zum Leben von einem unverständlichen Gott gebracht; wirkt Levit innerhalb des leicht elitären Ambientes wie ein Mitmensch in seinen beginnen Dreißigern. Während in Hallenolympia, derweil: letzte Zuckungen von Olympia im Fernsehen, zwei Stunden lang die Stimmung beständig forciert wird und dazu der pure Pomp mit Rüsche und Dudelsack und Streichern herrscht, wird beim Regenten alle Bombastik via Pfau an die Wand verbannt; was Levit bietet, ist schlank, ohne jeden Effekt, beinahe natürlich. Er kommt rein, verbeut sich nicht zu üppig, hockt sich auf, genau, Hocker, geht minimal in sich, legt los. Und alles fließt ins größtenteils Unbekannte. Und weitet das Bewußtsein, weil Levit ob seiner Mühelosigkeit eine monströse Anzahl an Details offenbart, allesamt durch Ludwig van eincodierte Lebenswegweiser, die es zu entziffern lebenslang lohnt. Levit ist der Beethoveninterpret der Stunde. Das sage ich mal im Chor der VIELEN. Gegen Fröhlichkeit ist nichts zu sagen, noch nicht – falls man sich denn überhaupt von einem Holländer, erinnern wir uns kurz an die Maastrichter Verträge wahlweise an Frank Rijkaard bei der WM 1990, Fröhlichkeit beibringen lassen möchte. Doch zu viel Frohsinn ohne rechten Grund, zu viel Selbstaffirmation, zu wenig Anstoß für die Menschwerdung, zu viel Oberfläche, das wissen wir aus Untersuchungen des Levit-Instituts, zerstört den Charakter für immer. Derart glücklich jeden Tag und stets zu jeder Schandtat bereit, kann das denn die Möglichkeit/Option für uns alle sein? Entweder, denn so viel ehrlich erworbener Frohsinn paßt gar nirgends rein, hat Rieu zu viele Pralinés mit Nougatfüllung gegessen, was verzeihlich wäre, oder er, die verlogene Trickfidel, die im Musikantenstadl bei Karl Moik groß wurde, züchtet in seinen Glashäusern humanoide Lachsäcke, die er vor der Bühne aufstellt – oder gleich beides, es schließt sich ja nicht aus. Wir wissen mittlerweile, dass der sog. Walzerkönig ein Schloss bewohnt und, laut Wikipedia, 120 Angestellte hat, die ihm, laut Vermutung, ohne Widerwort dienen. Diese Rieuwalze ist mit Charmeversatzstücken und reichlich Brillantine geölt und läuft und läuft und läuft… Wohin? Zur Dienstleistung hin, die gute Laune gegen Bares liefert. Nun aber ernsthaft. Lieschen Müller – auswärts des Müllers Lieschen genannt. Die ist natürlich eine im Leben fest verankerte Fiktion bloß. Sie ist zufrieden mit dem, womit man sie abfüttert. Kann auch Großküchenfraß sein. Egal. Sie macht alles mit, wenn der Pulk mitmacht, die allzeit Ergebene. Sie ist mäßig gewohnt selbständig zu denken. Das mag an ihrer Erziehung liegen oder ihrer Faulheit oder einem genetischen Defekt. Egal. Wenn einem also für den Granatenwerfer Munition ausgehen sollte, dann wäre so ein Lieschen Müller doch… Diesen Satz möchte man dann als Christ/Muslima/Levit nicht beenden. Könnte man aber ohne grösseren Aufwand.