Welch großartige Darsteller – und besonders: Nebendarsteller, selbst in den kleinsten Rollen. Das gab es im deutschen Fernsehen nie, oder, vorsichtiger angefaßt, äußerst selten nur; das zumindest hat zweifelsohne Hollywoodformat. Man staunt über die Detailarbeit und vergißt darüber fast den Inhalt von dem Vierteiler – à 1,5 Stunden – „Das Verschwinden“, der gerade in der ARD gelaufen und in deren Mediathek noch im November zugänglich ist. Dabei ist der Inhalt fast genauso großartig. In der oberpfälzischen Provinz, ganz nahe der tschechischen Grenze, verschwindet ein 19jähriges Mädchen – der Motor, der etliche Personen in die Gänge setzt. Die Mutter des Mädchens zuvorderst, die es voll Willenskraft sucht, dann die zwei Freundinen, die eine kurz vor Abitur, die andere 20 und an sich in Bayreuth beim Studium; plus deren Familien. Plus den türkischstämmigen jungen Mann, der die Mädchen mit Drogen versorgt hat; plus dessen Familie plus eine Handvoll Kriminalbeamte plus BKA-Handlanger plus den und diesen. Jeder Figur, noch der klitzekleinsten unter ihnen, wird hierbei die volle Aufmerksamkeit geschenkt, sie wird wenigstens kurz mit knappen Sätzen oder signifikanten Bewegungen dargestellt, die freilich einen ganzes Lebenskosmos evozieren. So entsteht mehr Kunst denn blosses Fernsehen . Eine Lüge hat hier jeder parat. Oder hat sich gleich in ihr – der Lebenslüge – eingerichtet. Einfache Lösungen gibt es nicht. Nichts läuft jedenfalls geradling, nahezu alles ist mehrschichtig oder gar bis zur Unkenntlichkeit verworren angelegt. In der Kleinstadtatmosphäre mit deren Zuständen ist man sofort drin. Das liegt in erster Linie an der Arbeit eines erfahrenen Regisseurs, der sich auch in seinen vorigen Filmen, bislang nur fürs Kino, nie leicht gemacht hat – an Hans-Christian Schmid. Der hat neben Bernd Lange, mit dem er seit Jahren zusammenarbeitet, am Drehbuch mitgeschrieben. An der Kamera ist Yoshi Heimrath, den Schnitt besorgten Hansjörg Weißbrich und Bernd Schlegel, die Musik kommt von The Notwist. Alle diese Leute, dazu noch das Casting von Suse Marquardt und Alexandra Koknat, muß man dringend erwähnen, denn dies ist eine der Sternstunden der viel und zurecht kritisierten Öffentlich-Rechtlichen, an die wir alle gezwungenermassen Gebühren entrichten. Bei „Das Verschwinden“ sind die Gebühren mal gut angelegt. Man bedient sich zwar bei Twin Peaks und auch Breaking Bad, aber dezent, niemals am Plagiat entlang; nie auch sowohl in Bild wie in Wort an der Glätte des Mainstreamfilmemachens interessiert. Tragisches passiert ohne jede Effekthascherei, ohne vordergründigen Gewaltausbruch, doch allzeit mit voller Wucht, die einen Tage zu begleiten vermag. Die so einfühlsam wie sparsam geschilderten Milieus reichen von kleinbürgerlich bis proletarisch bis bourgois; die Hauptfigur, verkörpert von Julia Jentsch, ist eine alleinerziehende Mutter. Es geht ums Ewachsenwerden, um junge Leute gegen 20, die trotz BRD-Behütung in dieser Gesellschaft oder gar der Welt keinen Platz für sich finden können. Die haltlos sind, zerrissen, zu schwach für jedwede Sinnsuche möglicherweise, die erstrebenswerte Vorbilder um sich nicht sehen. Vor allen Dingen geht es aber um Familienverhältnisse; um Elternteile, die sich wider besseres Wissen oder auch bewußt mit ihren Kindern Ebenbilder erschaffen wollen, doch im Grunde genommen kaum weniger haltlos sind als sie. Extrem überzeugend wird durch Schmid & seine Filmcrew gesellschaftliche wie menschliche Hilflosigkeit geschildert, die fast zwangsläufig auf ein umfassendes, dramatisches Versagen hinaus läuft. Die geordneten Verhältnisse zählen nichts. Bezeichnend deshalb, dass lediglich ein verlebter Polizist recht deutlich die Lage erkennt und zuletzt als die empathischste all der menschlichen Gestalten hier dasteht – die jungen Menschen bezeichnet er als „unglücklich“, das reicht als überzeugende Diagnose vollkommen aus. Schon bitter allerdings, dass sich jeder, der Kinder hat und sie aufwachsen sieht/sah, an einem gewissen Punkt innerhalb dieser herausragenden Serie – der fraglos auch logische Aussetzter unterlaufen, deren Ende vielleicht auch allzu abrupt geschieht – da oder dort wiedererkennen wird.
Ein illusionsloser Blick also auf uns. Doch diese Illusionslosigkeit muß sein. Um Korrekturen wenigstens am Kleinkram einigermassen rechtzeitig vorzunehmen. Um zumindest die allergrößte Tragik abzuwenden. Um Lebenslust geschickter vortäuschen zu können?
Lieber AdamO,
da wird einem ja das Auge wässrig, bzw. durstig nach dieser Serie.
Werde ich auf der nächsten Reise einplanen…
Dein J.S.B.
Lieber Adam,
ich teile Deine Meinung zu »Das Verschwinden« hundertprozentig. Herausragend, verstörend, gestaltend bis ins Detail, getragen von wunderbaren Schauspielern (Julia Jentsch war mal eine Mieterin von Ernestine in Hamburg).
Ich bin erst mit der zweiten Folge durch, bin also froh, dass Du nichts verraten hast (nur, dass es etwas abrupt aufhöre).
Freue mich über Deinen Blog, unbedingt weiter machen!