Fly or Die

New York Is Killing Me. Sosehr ich den Poppoeten Gil Scott-Heron schätze, ihn auch aus seiner Sicht verstehen kann, als Schwarzer in den Sechziger-/Siebzigerjahren, als Junkie in der alles fressenden Metropole, uneingeschränkt zustimmen kann ich seinem oben angebrachten Liedtitel nicht.  Mein einwöchiger Ausflug nach New York Ende Mai versorgte mich, nach einer zwischenzeitlichen Erlahmung da wie dort, vor allen Dingen mit monströser Energie, die hoffentlich bis in den Herbst hinein reichen wird. (Einer Energie, um alles um mich zu zerlegen und neu zusammen zu fügen – mit der auch.) Beim New York-Aufenthalt meint man immer, sich im Auge jenes Orkans zu befinden, der die Welt mit seiner Triebkraft versorgt. Man wartet dort nichts ab, sitzt ganz und gar nichts aus, man pusht fortwährend. Was ist und was war, das ist zwar da, eingeschrieben in die Stadt und deren – meinetwegen – Story, interessiert aber im Alltag kaum, es zählt: was wird. Nach der Rückkehr, bereits in der S-Bahn vom Flughafen,  kam mir hierzulande wieder mal alles grau und wenig weltbewegend vor. Zu New York gehören folgerichtig auch Visionen, die auf das Wird verweisen und die gewöhnlich mit aller Härte durchgesetzt werden. Passenderweise gibt es in New York das Vision Festival. Erneut, nach kurzer Abwesenheit an diesem Ort, sechs Abende lang im  Roulette, einem Theater in Brooklyn. Das letzte Mal hörte ich innerhalb der BRD von Visionen Jahre her, als mich ein Irrer mit Hut vorm Dallmayr ansprach; und kurz darauf im Filmtitel über Hildegard von Bingen
( 1098-1179; Regie: Margarethe von Trotta; starring: Barbara Sukowa). Man betont beim Vision Festival seit jeher den Community-Gedanken stark, also den Zusammenhalt von mit ähnlichen Visionen versehenen Menschen.  Es fallen oft Worte wie „love“ oder „equity“ oder „heart“ oder „joy“, „to share“ oder „to love“ oder „to touch“, vor allem von Seiten der Organisatorin Patricia Nicholson Parker. Seit Jahren trifft man an der 509 Atlantic Avenue auf Leute, die inmitten des Kapitalismusorkans, auf Humanität aus, die zugeneigt und zugänglich sind. Es geht dort unbeschwert und intim zu, man kennt sich nach einer kurzen Weile. Ein Gegenentwurf zum arg anonymen Stadtgeschehen, zur Freundlichkeit für Bares? Ob nun alle bei Vision stets menschlich handeln, das sei kräftig dahin gestellt, zumindest aber glaubten alle in dieser Maiwoche im Roulette, wenn schon nicht durchgehend  an das Gute, so doch unzweifelhaft an die heilende Kraft des Jazz. Des Modern Jazz. Des Free Jazz. Der New Black Mystery Music. Denn das Festival, das es seit 23 Jahren gibt, dreht sich um genau jene Art der frei gestalteten Musik. Auf die Zukunft in der dem Wird verpflichteten Großstadt verwies vor allem eine junge Frau: Jaimie Branch. Sie studierte am New England Conservatory of Music in Boston und wurde nach  Chicago und Baltimore in New York sesshaft; sie spielt Trompete. Branch sah man bei Vision gleich zwei Mal, in einem strikt politisch und zum Soul hin motivierten Quartett der Sängerin Fay Victor sowie im eigenen Ensemble Fly or Die. Jaimie Branch fällt erstmal als eine üppige Gestalt im Trainingsoberteil eines Sportartikelherstellers aus Herzogenaurach auf, der Schirm des Baseballkäppis seitlich verschoben, der Haarschnitt wie mit Reißwolf behandelt.  Äußerliche Waghalsigkeit hin oder her, dieses Erscheinungsbild tischt,  im traditionell modefernen Jazzzirkeln sowieso (Ausnahmen: der Bebop, Miles Davis, Roy Haynes, afrikanisch orientierte Freejazzer),  eine gewisse Coolness auf,  aus Richtung Straße zwar, doch vielleicht umso besser so, weil es dort ziemlich vorwärts zugeht. Unklarheiten, die es im Selbstverständnis – Straße und Rotz & Wasser oder Establishment und Tonhübschheit?; beides? – geben mag, gleicht Branch mit einer bewundernswerten Selbstsicherheit beim Spiel aus, das äußerst stabil ausfällt, dynamisch und im Spannungsaufbau geradlinig-bewusst und experimetierfreudig und zudem noch auf Überraschungen aus. Sie hört auch, stets ein wichtiges Kriterium, ihren Mitmusikern zu.  Die Zukunft. Ja, so sieht sie wohl vorläufig aus; im Trainingsanzug und mit, so fifty-fifty, sensibel-drangvollem Zug zum Tor. Gewiß wäre da noch eine ganze Batterie aus fortgeschrittenen Dreißigjährigen erwähnenswert, ein Darius Jones, eine Mary Halvorson, ein Adam O’Farrill, Irreversible Entanglements, die mit dem engagierten Sprechgesang von Camae Ayewa aka Moor Mother ein Zwischending aus Free und Protest entfacht haben, eine Kris Davis, ein Tyshawn Sorey, ein David Vireilles, ein James Brandon Lewis … Da ist Hoffnung, weil so viel drin fürs Wird. Ein Trio aus Branch, Davis und Sorey etwa hätte standartisierte, arrivierte, sattsam bekannte Parameter garantiert wenn nicht zerlegt, so doch für eine halbe Ewigkeit verschoben. All die Erwähnten öffneten einem auf individuell unterschiedliche Weise auch so, ganz wie es sich für eine der Notwendigkeit erwachsene Improvisation gehört, das Sehfeld. Ja. Jazz hat Schlagkraft und Bedeutung. Vor allem in New York, wo das Genre seine Muskeln schon immer vorzugsweise ausgepackt hat und wo das seriöse, fast unangreifbare Wochenmagazin The New Yorker immer noch bei Veranstaltungstipps auf eine Jazzrubrik beharrt. Die Szene, so scheint es für einen Zugereisten, ist unterbezahlt aber vital. Und wie der New Yorker an sich: nicht unterzukriegen.

Teil zwei folgt. Starring: DIE VERGANGENHEIT.

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