Opa sagt:
– Du hast dir wieder eine Süßigkeit stibitzt, mein Lieber?
– Was?
– Eine Süßigkeit. Stibitzt. Du.
– Stimmt gar nicht.
– Und was ist das da?
– Was?
– Um deinen Mund? Wenn es nicht Schokolade ist.
– Ist nicht.
– Lass mal sehen.
Der Opa befeuchte eine seiner Fingerkuppen und reib damit am Mundwinkel von Balthasar, seinem einzigen Enkel.
Die Holzbank vor dem kleinen Häuschen, auf der Opa und Enkel saßen, hatte die Sonne erwärmt. Weil die Bank keine Lehne hatte, stützten beide ihren Rücken gegen die warme Hauswand. An sich ging es ihnen gut.
Mit der Zungespitze probierte der Opa vom Zeug, das er am Mundwinkel des Enkels aufgetan hatte. Zuletzt nickte er ausgiebig, die Spitze des unangezündeten Zigarillo zwischen Zeige- und Mittelfinger zielte in Balthasars Richtung als er sagte:
– Klarer Fall. Schokolade. Und zwar nicht irgendeine. Die beste gleich. Die französische, die ich neulich in der Stadt besorgt habe. Neuguineabohnen. Verdammte Kakerlakenscheiße. Eine Stange Geld hat die Schokolade gekostet, mein Lieber.
Der Opa schaute den Balthasar derlei fest an, dass er mit seinem Blick geradewegs bis ins Enkelherz vordrang. In ein Herz, das sich erst verkrampfte, dann zur Nussgröße schrumpfte, um bald gegen den Brustkorb wild zu hämmern, als wolle es ausbrechen – was freilich nicht gelang, denn wo sollte das kleine Herz schon hin.
Dabei wäre die Aufregung des Herzens gar nicht nötig, denn der Balthasar wusste ja: gemein konnte sein Opa nie werden. So zuckte er, obwohl es gegen die Brust wild hämmerte, mit der Schulter bloß.
Der Opa nickte weiter fleißig mit dem Kopf, der Zigarillo, nun fest zwischen beiden Lippen, wanderte unangezündet von Mundwinkel zu Mundwinkel. Die Falten in seinem gebräunten Gesicht vertieften sich nicht, was ein gutes Zeichen war – er war nicht richtig sauer.
Der Opa sprach undeutlich, weil ihn der Zigarillo am Reden hinderte.
– Dahabnwiswieder. Lüghabkzebeine.
– Was?
Der Opa nahm den Zigarillo aus dem Mund und sagte nun deutlich:
– Lü-gen ha-ben kur-ze Bei-ne.
Der Balthasar schaute auf seine bloßen Füße, unter deren Zehennägeln sich schwarzer Dreck vom Mai eingerichtet hatte, und fragte:
– Was?
Der Opa schaute seinen Balthasar nun doch recht streng an.
– Eine Lüge hält nicht lange vor. Sie wird ganz schnell als Lüge enttarnt meint das, du Rotznase. Die Wahrheit siegt zuletzt immer, das meint es auch noch wahrscheinlich.
Balthasar rotzte im weiten Bogen ins Gras. Der Opa erzählte ihm grundsätzlich zu viel. Zu viel von den alten Zeiten vor allem. Meist kam in seinen Erzählungen ein Haufen Leute vor, deren Namen er sich nicht merken konnte.
Er fragte dann aber doch, nur damit der Opa seinen Spaß hatte, wobei er von seinen dreckigen Zehen nicht abließ:
– Was?
– Das heißt nicht was? Das heißt anders. Wie bitte nämlich. Wenn man gut erzogenen Menschen glauben mag. Oder kleinkarierten Geistern von nebenan.
– Wie bitte dann eben.
– Komm mal her, du Saubär. Hierhin. Direkt auf meine Knie. Aber husch.
Die Sonne brannte höllisch herab. Im August sowieso. Sie machte jeden von uns kurz hell und klar.
Da musste der Balthasar die Augen zusammenkneifen, als er den Schoß seines Opas bestieg.
Opas Hose war steif vor Zement, voll Ölflecken und eingetrockneter Erde.
Balthasar saß jetzt so, dass er nicht von Opa weg, sondern zu ihm hin blickte. Direkt in sein Gesicht. Auf seine Brauen und Falten und Narben. In dessen grüne Pupillen.
Der Opa hievte den Holzklotz hoch auf die Bank, das Futteral mit dem Schnitzwerkzeug legte er drauf. In diesem Jahr noch, so Opas Wunsch, sollte sein Enkel das Schnitzen lernen. Geprobt hatten sie es schon, jetzt wurde es ernst.
Der Himmel war durchgehend blau, die Luft sauber, wie auf dem Land so oft.
Der Opa schloss seine Augen, nur um sie sogleich aufzumachen.
Er zündete ohne Eile – mit einem Ratsch! oder Ritschratsch! des Zündholzkopfes an der Schachtelseite – seinen Zigarillo an, der sofort zu stinken begann.
Balthasar beobachtete ihn genau. Noch immer hatte er es nicht raus, wie man ein Streichholz anständig anriss.
Der Opa zog den Rauch ein und erzählte:
– Zu lügen mag eine Weile lang gut gehen, aber irgendwann setzt sich die Wahrheit doch durch. Dann Gnade dir Gott, mein Lieber. Was folgt, wenn die Lüge als Lüge enttarnt wird, ist eine satte Strafe. Im Himmel, bei einem Gott also, oder noch auf Erden. Ganz wie der Herr es wünscht.
Einen Schwall stinkender Luft stieß der Opa von sich, in einem geraden Strahl, so dass die Ziege Hermine, die ein Stück Bank annagte, sofort zum Strauch mit den Stachelbeeren wechselte.
– Der Opa lachte laut auf, und zwar so, dass die Bank erzitterte, klatschte auf die Seite seines Oberschenkels anschließend – eine Staubfahne stieg von der verdreckten Hose auf. Ein Hustenanfall schloss sich an seinen Lachkrampf an. Doch der Opa hustete gekonnt ab und begann gleich darauf zu erzählen:
– Gelogen haben auch die Griechen bei der Belagerung von Troja. Und zwar tüchtig, die Saftsäcke.
Wieder die Griechen, die alten Langweiler. Mit ihrer Armee von Göttern, denen kein Mensch gehorchte. Balthasar hatte die alten Griechen gehörig satt. Um sich abzulenken, probierte er einen eigenen Husten aus, der aber flach klang, gar nicht so wie der vom Opa. Er guckte wiederholt seine Zehen an, bevor er automatisch fragte:
– Was?
– Gott erbarme sich deiner. Wie bitte heißt das noch immer und für alle Zeiten, mein Lieber.
– Wie bitte dann.
– Ist recht.
Der Opa ließ den Rauch aus der Nase entweichen, bevor er diese Worte fand:
– Die Griechen also. Die bauten dieses riesige Holzross und stopften Soldaten hinein. Und stellten es vor die Stadt Troja. Und die Trojaner dachten tatsächlich, es wäre ein Geschenk. Diese Schwachköpfe. Die Welt wimmelt von Schwachköpfen. Du weißt doch, wie gern die Leute Geschenke bekommen. Wenn sie nur von einem Geschenk hören, zittert ihnen das Kinn schon. Kriegen sie Bauchweh. Durchfall mitunter. Ja. Wo es etwas umsonst gibt, spitzen die Leute sofort die Ohren, das ist allgemein so. Denn einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, wie der Volksmund berichtet. Der Gaul kann ja ganz hübsch laufen, aber im Maul dann doch nur verrotteten Stumpfsinn offenbaren, der ordentlich stinkt. Egal, geschenkt ist geschenkt, so dachte man damals, so denkt man heutzutage. Hätten sie aber machen sollen, die Trojaner. Hätten sie es rechtzeitig gemacht, ins Maul oder besser in den Bauch des Holzrosses geschaut, wäre es ihnen anders ergangen. Doch einmal schwach gedacht, schon schnappt die Falle zu.
Wieder Zeug, das er nicht verstand. Späße für Erwachsene. Wieder ein Atomat, fragte Balthasar:
– Was?
Der Opa blies eine übel riechende Wolke in Form eines Pferdekopfes gegen den fernen, blendenden Himmel und sagte mit Nachdruck, wenngleich ruhig:
– Ja, leck mich aber ordentlich. Wie bitte. Bitte wie. Bitte. Bitte. Bitte.
– Okay. Wie bitte?
Sagte nun der Balthasar.
Opas Zigarillo brannte ab, Aschebröckchen rieselten herab. Der Gestank war unerträglich. Balthasar konnte kaum atmen. Er wandte sich ab.
Eine Weile lang sah er der Hermine zu, die am Strauch zupfte. Stachelbeeren aß im Dorf außer dem Opa und der Ziege niemand.
Der Opa zögerte nicht allzu lange, blickte forschend in die Augen seines Enkels und legte los.
– Die Griechen mit ihrer Lüge, nicht wahr. Sie haben zwar die Trojaner getäuscht und die Festung erobert, doch ihr Trick, der doch nur eine Lüge war, hatte kurze Beine. In der Tat winzige Beinchen. Denn als die Wahrheit ans Tageslicht kam, erging es ihnen ganz und gar nicht gut, den Drecksäcken. Die Lüge brachte über sie Unglück.
Balthasar fragte, die Augen schmal und diesmal auf seinen Opa gerichtet:
– Kopf ab?
Der Opa nickte bedächtig und sagte:
– Auch das. Wie es damals eben üblich war. Wer lügt bis sich die Balken biegen, was nichts anderes bedeuten soll, als dass er das Lügen übertreibt, so dass etwa ein Haus, von dem erwähnten Balken gestützt, beinahe einstürzt, der muss für seine Untaten büßen. Der Kopf sitzt nun mal nicht fest genug auf unserem Hals.
Balthasar kramte in der Brusttasche seiner Latzhose, fand dort aber rein gar nichts.
– Es ist eine üble Geschichte, grausam und übel. Weiß gar nicht, ob du schon in dem Alter bist, um sie zu hören, du Rotzbub ohne Manieren.
Da war der Balthasar wach. Bei verbotenen Geschichten im Grunde immer.
Der Opa schaute den Balthasar lange an. Balthasar hielt den Blick, der unter den buschigen Augenbrauen hervorkam, fast anderhalb Minuten aus – das war ein Rekord. Obwohl. Am Donnerstag, als die Hermine vormittags, noch vor dem Frühstück, den Topflappen auffraß, hat er fast eine Minute und eine halbe geschafft. Aber das zählte nicht. Weil er ein bisschen geschummelt hatte. Der Opa ließ schließlich seinen durchdringenden, gar nicht so ernst gemeinten Blick sein, nahm einen Zug Rauch zu sich und erzählte weiter:
– Der Ärger fing damit an, dass Paris, der doch der Sohn der Trojanerkönigs Pramos war, einen goldenen Apfel der Liebesgöttin Aphrodite schenkte. Jener Apfel war von der Göttin Eris für die Schönste weit und breit bestimmt. Und der Paris, grundlegend vertrottelt wie Verliebte so sind, fand nun mal Aphrodite schöner als all die anderen.
Der Opa pustete eine grausam riechende Wolke aus, die sich mehrfach teilte und die Umrisse mehrerer Gestalten, Männer wie Frauen, auf Höhe der Schuppendachrinne erstehen ließ.
– Das war ein Fehler. Zwei andere Göttinnen nämlich, die Athene und die Hera nämlich, die härtesten aller Frauen jemals, waren daraufhin mächtig beleidigt. Und Paris, der bald nach seiner fragwürdigen Wahl nach Sparta reiste, benahm sich daraufhin auch nicht besonders geschickt. Er verführte dort, in Sparta, die schöne Helena, die mit dem König Menelaos verheiratet war. Mit ihr floh er auf einem schnellen Schiff, der Wind stand gerade günstig, in seine Heimatstadt Troja.
Ein Schiff aus Rauch segelte durch die sonnendurchtränkte Sommerluft. Mit mindestens zwanzig Mann an den Rudern.
– Menelaos, der betrogene Ehemann aber, sammelte rasch treue Krieger zu einem Feldzug um sich, denn eine Frau zu entführen ist beileibe kein Kavaliersdelikt, das heißt keine Kleinigkeit. Seinen Bruder Agamemnon zum Beispiel nahm er mit, um gegen Troja zu kämpfen, den Achilleus etwa, den Aias, den Odysseus, den greisen Nestor sowie Tausende anderer tapferer Männer Griechenlands. Sie mussten quer übers Ägäische Meer, denn Troja lag dort, wo heute Asien anfängt. Kannst du mir folgen, mein Lieber?
Die Sonne ließ Balthasar tüchtig schwitzen, sein Haar war lang und dicht, deshalb vor allem. Groß waren seine Augen, offen der Mund im Augenblick. Er brachte kein Wort heraus. Er folgte. Hörte also zu.
Was der Opa sah, das gefiel ihm, Geschichtenerzähler wollte er von klein auf werden, so fügte er dann gerne dies hier an:
– Die Götter aber, und in Griechenland der Antike, noch vor Jesus, gab es eine etwas unübersichtliche Anzahl von Göttern, waren überhaupt nicht einer Meinung. Aphrodite und Apollon waren überzeugt, dass die Trojaner Recht hatten, Hera und Athene aber unterstützten die Griechen. Diese belagerten die Stadt, stießen vor und wurden zurückgedrängt. Stießen erneut vor. Und wurden abgewehrt. So ging es zehn Jahre lang, hin und zurück, zurück und hin. Ein sinnloses Gemetzel. Keiner konnte siegen. Mal sah es aus, wenn bestimmte Götter eingriffen, als gewännen die einen, dann wieder, als kämen die anderen durch.
Mächtige Figuren der alten Sagenwelt bevölkerten inzwischen den unmittelbaren Himmel über Opa und Enkel. Krieger und Götter, die Festung Troja gleich dahinter.
Opa erzählte:
– Wenn zum Beispiel Zeus, der Gott aller Götter, mal nicht auf Troja hinschaute, griff der Meeresgott Poseidon ein und half den Griechen. Wenn nicht er, dann unterstützte sie Aphrodite. Und so weiter und so fort. Dabei war der Grund des Streits, nämlich Paris, schon mausetot. Toter ging gar nicht. Ein Giftpfeil brachte ihn um. So schien dieser Krieg nach all den vielen Jahren nirgendwohin zu führen. Doch plötzlich kamen die Griechen auf die List oder, falls es dir besser gefällt, du Sohn meiner Tochter, auf die Lüge mit dem Holzross.
Balthasar schluckte gut hörbar. Er stieß fast mit der Nase gegen die Nase seines Großvaters – er wollte kein Wort, kein einziges Wort verpassen.
Dem Opa entwich der Zigarillorauch durch die Zähne, so das ihn Balthasar mitatmete. Zuletzt erzählte er dies:
– Kalchas der Seher war es, der den Griechen eingab, es mit einer List zu probieren. Alle Versuche, Troja mit Gewalt einzunehmen waren ja gescheitert. Odysseus aber hatte die entscheidende Idee. Ein riesiges Ross aus Holz sollte gebaut werden, in dessen Inneren sich griechischen Soldaten versteckten. Der fleißige Handwerker Epeos ließ dann Fichten fällen und zimmerte in drei Tagen ein Ross aus ihnen. Ein Ross, groß wie eine Scheune. In voller Waffenrüstung stiegen 30 Kämpfer in den Pferdebauch.
Der Opa zählte an den Fingern ab.
– Unter ihnen Neoptolemos, Menelaos, Diomedes, Odysseus. Als letzter stieg Epeos hinein und schob von Innen den Riegel zu. Das Holzross stand nun vor dem Stadttor Trojas. Die übrigen Griechen, trotz Verluste immer noch eine gewaltige Armee, zogen scheinbar ab. Scheinbar, weil sie vor einer nahen Insel ankerten. Vor einem Inselteil selbstverständlich, der von Troja aus nicht zu sehen war. So war das wohl damals. So berichtet uns das jedenfalls der ruhmreiche Dichter Homer, einer der geschicktesten in der Dichterwelt bis heute, wenn ich denn richtig liege.
Der Opa puste aus.
– Ich liege oft richtig, darauf kannst du einen lassen. Oder auch gleich zwei.
Der Opa verteilte den Zigarillorauch in der Landschaft, Balthasar schwitzte und wackelte mit den Zehen, das Werkzeug im Futteral sowie der Holzblock ruhten neben ihnen.
Die Sonne schien mit nicht nachlassender Kraft.
Über den Opa kam wieder der Husten.
Homer oder wie der hiess, der interessierte den Balthasar nicht die Bohne.
Doch stellte er sich schweigend die Frage: Wer wurde geköpft?
Nach einer knappen Pause, nachdem er ausgehustet und ein riesiges Ross aus Rauch – von der Dachrinne bis tief in des Nachbars Garten – fabriziert hatte, sagte der Opa, der seines Enkels Gedanken, weil er sie von seiner Jugend her kannte, leicht las:
– Geköpft wurde bestimmt einer, allerdings später. Sie waren natürlich neugierig, die Trojaner, und machten sogleich das Stadttor auf. Der Lakoon warnte sie noch, dass es möglicherweise eine Falle sein könnte. Aber nichts da, sie wollten unbedingt wissen, was es mit dem Holzross auf sich hatte. Zudem war da noch der Sinon, den die Griechen absichtlich dagelassen hatten, damit er die Trojaner belog. Ein kurzbeiniger Wicht musste er gewesen sein, ganz klar, so wie er da log. Der tat nämlich, als wäre er den Griechen fortgelaufen, die ihn den Göttern opfern wollten. Er sagte, das Ross sei an sich ein Geschenk der Griechen für die Kriegsgöttin Pallas Athene, um sie mild zu stimmen und mit Absicht so riesig geraten, damit die Trojaner es nicht durch das Tor ihrer Stadt hineinbekämen. Gelänge dieses ach so besondere Geschenk nämlich einmal in der Stadt, würde diese von Athene für alle Zeiten beschützt werden, und das gefiele den Griechen dann ganz und gar nicht. Diese Worte des Sinon reizten die Trojaner sehr. Und schon machten sie sich daran, das Eingangstor in Breite und Höhe zu vergrößern, schon packten sie Baumstämme unters Ross, um es vorwärts rollen zu können. Armdicke Leinen wurden um den Rosshals geschlungen, starke Männer zogen daran und bewegten das Holzross Meter um Meter, bis es schließlich mitten in der Stadt Troja zur Ruhe kam.
Erst Ausrufezeichen aus Rauch, dann Rauchringe verließen den schmalen Schlitz zwischen Opas Lippen. Mit einem Finger stach Balthasar in sie hinein. Manche lösten sich auf, einige Ringe stiegen aber unversehrt hoch, wurden im Umfang größer und größer, bevor sie von selbst auseinanderrissen.
Der Opa kam zum Ende, der Zigarillo jetzt ein Stummel nur:
– Alle Trojaner waren furchtbar aufgeregt, ganz verrückt auf das wunderbare Geschenk. Alle? Nein, Kassandra, die Tochter des Trojakönigs Priamos, sah Unheilszeichen am Himmel. Sie warnte. Doch keiner hörte auf sie.
Nach wie vor stand Balthasars Mund offen, Opa aber achtete nicht mehr darauf – zu vertieft war er momentan, zu sehr in Fahrt. Lug und Trug. Täuschung. Allerlei Gemeinheiten hatte er in seinem Leben erfahren. Einst kostete ihn eine seiner Lügen sogar eine Freundschaft. Gerade diese Erinnerung war jetzt blöderweise nahe.
Von nun an mit gebrochener Stimme brachte er seine Geschichte voran.
– Es gab ein Fest nun. Mit starken Getränken, Gesang und Tanz und loderndem Feuer. Bis in die tiefste Nacht feierten die Trojaner das Fest des Rosses. Kurz vor Morgengrauen aber fielen ihnen die Augen zu, den Ahnungslosen. Es wurde mäuschenstill zwischen den Stadtmauern. Kein Piep nirgends.
Ein letzter Rauchring.
– Da stand eine Gestalt auf. Es war Sinon, der erst gelogen und dann, der falsche Hund, mit den Trojanern gefeiert hatte. Er zündete eine Fackel an und schwenkte sie in Richtung jener Insel, hinter der sich die griechischen Schiffe verborgen hielten. Danach ging er zum Holzross, auf dessen Bauch er klopfte. Die dort versteckten Soldaten krochen geräuschlos heraus.
Schwach glomm der Rest des brennenden Tabaks.
Der Opa warf den Zigarillostummel vor seine Füße und trat darauf mit dem zerlatschten Absatz seines Cowboystiefels.
Balthasar zupfte an Opas behaarter Brust. Jetzt, wo es unerträglich spannend wurde, legte der Opa ausgerechnet eine Pause ein, was sollte das?
Der Opa nickte – und flüsterte dem Balthasar den Rest ins Ohr:
– Die Soldaten, kaltblütig wie Soldaten überall, krochen heraus. Flott brachten sie die Wachen um und machten das Tor weit auf. Was dann geschah, war schrecklich. Die Griechen töteten jeden, der sich ihnen widersetzte, egal ob klein oder groß. Die Stadt ging komplett in Flammen auf. Bürgerhäuser und Schuppen und Tempel und Schweineställe, alles. Und wen die Griechen nicht töteten, den nahmen sie mit in die Sklaverei. Der König Menelaos brach mit gezücktem Schwert in die Schlossgemächer ein. Und was fand er dort?
Balthasar konnte nicht antworten, er war hier und gleichzeitig ganz weit weg, in der Geschichte.
– Seine Frau Helena, das untreue Weibsstück, fand er dort, die ja der Grund dafür war, warum dieser Krieg überhaupt angefangen hatte. Er war ihr böse zwar, steckte sein Schwert aber bald ein. Helena war schön und im Prinzip immer noch seine Ehefrau. So nahm er sie mit nach Sparta. Glücklich aber wurden die beiden nie mehr.
Der Opa hustete aus.
– Lügen haben kurze Beine, das haben wir zu Beginn doch gesagt. Und wirklich. Trojas Untergang, mit Hilfe des Holzrosses herbeigeführt, diese List und Lüge also, brachte keinem der Sieger Glück. Gar viele der griechischen Schiffe versanken auf dem Rückweg, da es Unwetter gab, mächtigen Sturm, haushohe Wellen. Einer wie Odysseus musste sogar jahrelang umherirren, bis er wieder nach Hause fand. Der stolze Agamemnon wurde von seiner Frau getäuscht und starb selbst durch eine List. Und so weiter und so fort. Ja. Eine Lüge zieht nichts Gutes nach sich, das können wir aus der Geschichte für unser Leben locker und leicht lernen, mein Lieber.
Der Opa schaute dem Balthasar tief in die Augen und fragte:
– Alles in Butter?
– Wie?
– Nicht wie und nicht was, sondern?
– Bitte?
Der Opa nahm seinen Enkel von seinem Schoss, stellte ihn vor sich auf.
– In Butter. Es meint nur, ob alles klar ist. Ein bisschen dämlich diese Redewendung, da Butter noch lange nicht so klar ist wie zum Beispiel Quellwasser. Selbst nicht dermaßen klar wie Kloßbrühe. Aber wenn es an Butter nicht fehlt, dann geht es einem gut, so dachte man früher zumindest, als man diese Redewendung erfand. Und fragte also eben, ob alles klar, das heißt gut sei. Heute können sich alle in unseren Breitengraden Butter leisten. Ein Packerl, 250 Gramm sind das hierzulande, kostet Kleingeld nur. Ich schweife ab, mein Lieber. Butter hin oder her. Ist alles gut? Hast du mich verstanden? Ist das eine zu schwere Frage für dich?
– Was?
Der Opa schaute den Balthasar an. Schon etwas strenger nun. Beide hatten sie die gleichen grünen Augen, grün wie–
Gerade da hielt der Bauer Nudelbichler mit seinem Fuhrwerk am Zaun.
Weil er kurze Beine hatte, stellte er sich auf den Kutschbock, so dass Opa und Enkel seinen Kopf über dem Zaun ragen sahen.
Er rief in den Hof hinein:
– Du, Opa. Der Eder Franz hat ihn endlich gepackt. Den Hecht. So ein Monster.
Er zeigte zwischen seinen über dem Kopf hochgereckten Armen eine gewisse Entfernung an und rief dabei aus voller Kehle:
– Hab ihn hier. Ein Monster, echt wahr.
Der Opa stand von der Bank auf, steckte einen neuen Zigarillo zwischen seine Lippen, packte seinen Buben bei der Hand und murmelte auf dem Weg zum Tor für sich recht gut hörbar:
– Was habe ich gesagt. Kurze Beine haben sie, die Lügen. Kein Wort glaube ich diesem kurzbeinigen Saukerl.
Sie machten gemeinsam das Tor auf, der Opa den Riegel oben, der Balthasar jenen unten.
Der Nudelbichler auf dem Kutschbock lächelte unter seiner zerknautschten Schirmmütze. Er zeigte auf die Ladefläche.
Der Opa hielt Balthasar hoch, und beide guckten sie gleichzeitig über die Fuhrwerkwände.
Inmitten von Stroh lag dort auf der Ladefläche ein Monster von einem Hecht.
Dick wie ein Abwasserrohr.
Lang von hier nach da.
Mit Zähnen wie Nägel, an die der Opa seine Axt aufhängte.
Der Balthasar schaute seinen Opa streng an.
Dem Opa fiel beinahe der Zigarillo aus dem Mund.