Es ist mindestens erstaulich, wenn nicht unheimlich, wie viele Künstler aus einem Ort wie Wuppertal kommen oder in ihm leben, einem Ort, der allenfalls durch seine Schwebebahn und den Zoo bekannt ist. Wuppertal, ja, Wuppertal. Nun lasse ich das mal so stehen ohne es zu ergründen, als Enigma. Hans Reichel kam immerhin aus Wuppertaler Nähe, aus Hagen nämlich. Auch so ein Ort. Vielleicht machte der ihn zum Eigenbrötler, weil sonst in Hagen so gar kein Teddybär steppte. (Bei Wikipedia wird Reichel als „Wuppertaler Künstler“ geführt, obwohl es von Hagen nach Wuppertal gut 30 Kilometer sind; doch er lebte und starb in Wuppertal, das stimmt.) Reichel (1949-2011) war ein eigenwilliger Gitarrist, der in keine Genregrenzen paßte. Ihn als Klangbastler oder -forscher zu bezeichnen, das wäre vermutlich nur adäquat; er war auch gelernter Werkzeugmacher, das mag prägen. Er war auch zeitlebens vornehmlich in Duos oder solo an der Elektrogitarre unterwegs. Er erfand das Daxophone, das recht locker nachgebaut werden kann. (Ein Auszug aus Wikipedia besagt: „Ein Daxophon ist ein mit einem Cello- oder Bassbogen angestrichenes Holzbrettchen, dessen klingendes Ende mit einem handlichen Klötzchen in der Tonhöhe und Klangfarbe verändert werden kann. Mit dem Brettchen, das unterschiedlich geformt sein kann, ist ein Resonanzkörper mechanisch verbunden.“); dazu noch Third-Bridge- sowie Zweihals-Gitarren und ein paar erfolgreiche Schriften für die Typographie-Werkstatt. Er entwickelte neue Spieltechniken, heißt es. Er nahm vorwiegend für das Berliner FMP-Label auf, dessen Ausstoss, Improvisiertes und Jazzaffines, nahezu durch die Bank von Bedeutung ist. Er konnte der Melodie da und dort verbunden sein, aber nur, wenn ihm danach war. Er konnte im nächsten Schritt seine Musik in scheinbare Unverbundenheiten ausarten lassen, Tempi abrupt, doch selten der Logik komplett enthoben wechseln, so dass ihm kaum noch zu folgen war, liess Geräuschhaftes zunehmen, die Saite war keine Gitarrensaite mehr… Auch das tat er nur: wenn ihm danach war. Seine Marschroute bestimmte einzig er selbst; er war im Grunde der Teddy, der seinen individuellen Stepptanz aufführte. Strebte er etwa in seinem Hang zu rauhen Kleinteiligkeiten die Auflösung des Klangs? Schon möglich, wenn auch unwahrscheinlich. Er wollte vielmehr dem Sound, einem unfaßbaren Gebilde, bis in jede noch so winzige Ecke nachstellen; bisweilen so, dass da die Weltmusiken – Reichel spielte mit Musikern aus zahlreichen Ländern, lebte länger in Japan – im Detail mit erklangen. Er hatte einen handfesten Zugang zur Musik, womöglich, weil er technisch interessiert und im Technischen auch begabt war, zugleich aber war er für jegliche Abstraktionsformen offen. Es ist nicht immer leicht ihm zu folgen, doch lohnt der Versuch immer. Keiner gleicht ihm. Man kann auch schwer sagen, woher er stammt, wo seine Wurzeln liegen, wer ihm ein Vorbild war. Die Gitarre verliert bei Reichel ihre angestammten Funktionen, ist aller Nettigkeiten beraubt, ist mehr Universalöffner denn Strukturelement. Hans Reichels Unberechenbarkeit weist uns den Weg nach irgendwo. Wohin genau, das gilt es in den folgenden Jahrhunderten herauszufinden.